Shibumi: Thriller (German Edition)
kräftiges Zerren, während dahinter kleine Kielwasserwellen erschienen. Auf dem Grund der Vertiefung konnte er eine dreieckige Öffnung ausmachen – zweifellos der Abfluss des Wassers. Er hatte schon mehrmals derartige Trickteiche in Höhlen gesehen; Teiche, in die das Wasser ohne Blasen, die seine Strömung markierten, einfloss und deren Wasser vollkommen von den Mineralien und Mikroorganismen befreit war, die ihm gewöhnlich Farbe verleihen.
Er untersuchte die Wände der kleinen Höhle nach Spuren einer Hochwasserlinie. Anscheinend war der Ausfluss durch die dreieckige Röhre dort unten relativ konstant, während das Volumen des unterirdischen Flusses durch Regenfälle und Sickerwasser variierte. Diese ganze Kammer und die Mergelrinne hinter ihr dienten demnach als eine Art Zisterne, die den Unterschied zwischen Zufluss und Abfluss auffing. Das bot eine Erklärung dafür, dass so tief unter der Erdoberfläche Mergel auftauchte. Zweifellos war die Kammer, in der sie saßen, zeitweise mit Wasser gefüllt, das durch die lange Rinne zurückgestaut wurde. Ja, in den seltenen Fällen schwerer Wolkenbrüche endete der Wasserfall dort hinten vermutlich in einem flachen See, der den Boden der Zazpiak-Höhle bedeckte. Das war wohl auch der Grund für die abgestumpften Stalagmiten in der Kristallhöhle. Wären sie zu einem anderen Zeitpunkt gekommen, etwa in einer Woche nach heftigen Regenfällen, dann wäre ihre Expedition wahrscheinlich in der Zazpiak-Höhle zu Ende gewesen. Zwar hatten sie von Anfang an geplant, irgendwann später einmal, wenn sich die Zeitmessung mit dem Farbtest als günstig erwies, mit einer Taucherausrüstung die Mündung zu erforschen. Doch wenn sie in der Höhle oben auf einen seichten See gestoßen wären, hätte Hel unter Wasser kaum diese Mergelrinne gefunden, er wäre sie auch nicht hinabgeschwommen und hätte niemals diesen Weinkellerabfluss entdeckt, durch dessen dreieckige Öffnung das Wasser bis zur Mündung schoss. Sie konnten von Glück sagen, dass sie ihre Expedition nach einer langen Trockenperiode unternommen hatten.
»Na?«, fragte Le Cagot mit einem Blick auf die Uhr. »Wollen wir die Farbe reinschütten?«
»Wie spät ist es?«
»Kurz vor elf.«
»Dann lass uns bis zur vollen Stunde warten. Das erleichtert die Berechnungen.« Hel blickte auf die unsichtbare Wasserfläche hinab. Kaum zu glauben, dass auf ihrem Grund, zwischen den klar erkennbaren Felsformationen, eine mächtige Strömung dahinschoss und sog. »Zwei Dinge wüsste ich gerne«, sagte er.
»Nur zwei?«
»Ich wünschte, ich wüsste, wie schnell dieses Wasser fließt. Und ob die dreieckige Röhre dort frei ist.«
»Nehmen wir an, wir bekommen eine günstige Zeitmessung – sagen wir, zehn Minuten –, wirst du dann versuchen durchzuschwimmen, wenn wir nächstes Mal runterkommen?«
»Selbstverständlich. Auch wenn’s fünfzehn Minuten sind.«
Le Cagot schüttelte den Kopf. »Das ist zu lange, Niko. Fünfzehn Minuten durch eine solche Röhre, dazu braucht man eine Menge Seil, wenn ich dich, falls du auf Schwierigkeiten stößt, gegen den Strom wieder hochziehen muss. Nein, lieber nicht. Zehn Minuten ist das Maximum. Wenn’s länger dauert, sollten wir passen. Es ist gar nicht so schlecht, wenn man Mutter Natur noch ein paar Geheimnisse lässt.«
Le Cagot hatte natürlich Recht.
»Hast du Brot in deinem Rucksack?«, erkundigte sich Hel.
»Was willst du damit?«
»Aufs Wasser legen.«
Le Cagot warf ihm ein Stück von seiner Baguette hinüber; Hel legte es behutsam auf die Wasseroberfläche und beobachtete es genau. Langsam begann es zu sinken, schien in Zeitlupe durch klare Luft zu fallen, während es in den unsichtbaren Wellen pulste und vibrierte. Es war ein irrealer, unheimlicher Anblick, und die beiden Männer sahen fasziniert zu. Dann plötzlich, wie durch Zauberkraft, war das Brotstückchen verschwunden. Es war in die Strömung unten geraten und schneller, als das Auge folgen konnte, in die Röhre hineingesogen worden.
Le Cagot stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich weiß nicht, Niko. Das sieht ziemlich gefährlich aus.«
Aber Hel traf bereits vorläufige Entscheidungen. Er würde ohne Schwimmflossen, mit den Füßen zuerst, in die Röhre hineingleiten müssen, denn bei dieser Strömung mit dem Kopf voran durch die Öffnung zu schießen wäre Selbstmord, falls er da drinnen auf einen blockierenden Felsbrocken stieß. Außerdem wollte er, sollte er nicht hindurchgelangen, mit dem Kopf zuerst wieder
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