Shibumi: Thriller (German Edition)
»Wir sind jetzt fast auf der Höhe des Torrente von Holçarté. Die Mündung kann nicht mehr weit von hier sein.«
»Ja«, antwortete Le Cagot, »aber wo ist der Fluss? Was hast du mit ihm gemacht?«
Wie immer, wenn der Weg relativ einfach war, übernahm Le Cagot jetzt die Führung durch die Zazpiak-Bat-Höhle. Sie wussten beide, dass Nikolai der bessere Felstaktiker war; Le Cagot brauchte das nicht erst einzugestehen, und Hel musste es nicht betonen. Die Führung wechselte mit der Beschaffenheit einer Höhle. Hel führte durch Schächte, an Wänden hinab, über Simse, während Le Cagot die Führung übernahm, sobald sie Höhlen und pittoreske Passagen betraten, die er somit »entdeckte« und taufte.
Während er voranging, erprobte Le Cagot in der Höhle seine Stimme, indem er eines jener klagenden, atonalen baskischen Lieder anstimmte, deren Klang den Beweis für die Fähigkeit seines Volkes lieferte, ästhetische Schmerzen zu ertragen. Das Lied war von der einmaligen baskischen Onomatopöie bestimmt, die über die bloße Nachahmung von Geräuschen und Klängen hinausgeht und eine Imitation von Emotionen darstellt. Im Refrain war von einem Mann die Rede, der eine Arbeit nachlässig (kirrimarra) und in verwirrter Hast (tarrapatakan) ausführte.
Als er das Ende der Kristallhöhle erreichte, hielt Le Cagot inne und blieb vor einer breiten niedrigen Galerie stehen, die sich vor ihnen wie ein schwarzer zahnlos grinsender Mund öffnete. Und sie hielt tatsächlich einen Witz bereit.
Le Cagot richtete seine Lampe in den Gang. Das Gefälle nahm ein wenig zu, aber auf nicht mehr als fünfzehn Grad, und die Passage war so hoch, dass man drinnen aufrecht stehen konnte. Es war eine Promenade, ein regelrechter Boulevard! Und noch interessanter war, dass es sich hier höchstwahrscheinlich um den letzten Teil des Höhlensystems handelte. Er tat einen Schritt vorwärts – und schlug unter dem lauten Geklapper seiner Ausrüstung der Länge nach hin.
Der Boden der Galerie war dick mit Tonmergel bedeckt, so glatt und glitschig wie Wagenschmiere, und Le Cagot schlitterte auf dem Rücken den Hang hinab – zuerst zwar nicht besonders schnell, aber doch unaufhaltsam, denn er war nicht in der Lage, seine unfreiwillige Rutschpartie zu stoppen. Fluchend tastete er nach einem Halt, doch alles war mit der schleimigen Masse bedeckt, und nirgends gab es Steine oder Felsvorsprünge, an denen er sich hätte festhalten können. Seine Anstrengungen bewirkten lediglich, dass sein Körper sich drehte und er nunmehr mit dem Kopf voran hinabrutschte, halb aufgerichtet, hilflos, wütend und lächerlich anzuschauen. Er bekam immer mehr Fahrt. Und Hel, oben am Eingang des Mergelschachts, musste zusehen, wie das Licht seiner Helmlampe kleiner wurde und langsam rotierte wie der Strahl eines Leuchtturms. Er konnte nichts tun. Die Situation war im Grunde komisch, doch wenn ein Abgrund am Ende des Schachtes lauerte …
Es gab keinen Abgrund am Ende des Schachts. Hel hatte noch niemals in solcher Tiefe eine Mergelrinne erlebt. In beträchtlicher Entfernung, etwa sechzig Meter vor ihm, kam das Licht plötzlich zum Stehen. Kein Laut war zu hören, kein Hilferuf. Hel fürchtete schon, Le Cagot sei gegen die Seitenwände des Ganges geschleudert worden und zerschmettert liegen geblieben.
Dann drang jedoch Le Cagots Stimme durch den Schacht herauf: brüllend vor Zorn und Wut, wegen der einander überlagernden Schwingungen kaum zu verstehen, aber ganz eindeutig im Ton zutiefst verletzten Stolzes. Nur ein Fetzen dieses von den Wänden ringsum widerhallenden Ausbruchs war auszumachen: »… bei den perforierten Eiern des heiligen Sebastian!«
Le Cagot war also unverletzt. Die Situation wäre einfach komisch gewesen, hätte er nicht ihre einzige Seilrolle mitgenommen, und nicht einmal dieser Stier von Urt konnte eine Seilrolle sechzig Meter weit bergauf werfen.
Hel stieß einen tiefen Seufzer aus. Er musste also zurück durch die Zazpiak-Bat-Höhle, durch die Basis des Wasserfalls, die Geröllecke hinauf, abermals durch den Wasservorhang und dann noch die schwierige Klettertour durch die eisige Gischt bewältigen, um das Seil zu holen, das sie dort hängen gelassen hatten, um sich den Rückweg zu erleichtern. Allein der Gedanke daran machte ihn müde.
Aber … Er legte den Rucksack ab. Sinnlos, ihn mitzuschleppen. Dann rief er die Mergelrinne hinab, jeweils eine Pause zwischen den Worten machend, damit er trotz des Widerhalls zu verstehen war:
»Ich … gehe
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