Shibumi: Thriller (German Edition)
herauskommen, damit er Le Cagot am Sicherungsseil helfen konnte, indem er mit den Füßen ruderte.
»Das gefällt mir nicht, Niko. Das kleine Loch da unten könnte dich umbringen und, was weitaus schlimmer wäre, die Zahl meiner Bewunderer um einen reduzieren. Außerdem vergiss bitte nicht, dass das Sterben eine ernsthafte Angelegenheit ist. Wenn ein Mensch mit einer Sünde auf dem Gewissen stirbt, kommt er nach Spanien.«
»Wir haben einige Wochen Zeit, um uns alles genau zu überlegen. Wenn wir wieder draußen sind, werden wir in Ruhe darüber reden und sehen, ob es sich lohnt, eine Taucherausrüstung runterzuschaffen. Nach allem, was wir bis jetzt wissen, könnte unser Farbtest schließlich ergeben, dass die Röhre für einen Schwimmversuch zu lang ist. Wie viel Uhr ist es?«
»Gleich elf.«
»Dann wollen wir jetzt die Farbe reinschütten.«
Die fluoreszierende Farbe, die sie mitgebracht hatten, war in Zweikilosäcken verpackt. Hel zerrte sie aus den Rucksäcken, Le Cagot schnitt die Ecken ab und reihte sie am Rand des Weinkellers auf. Als der große Zeiger auf zwölf stand, warfen sie alle vier Säcke hinein. Grellgrüner Rauch quoll aus den Schnitten, als die Säcke ins kristallklare Wasser hinabsanken. Zwei von ihnen verschwanden sofort durch die dreieckige Röhre, doch die beiden anderen blieben am Grund liegen, und ihre wolkigen Farbströme flossen horizontal auf die Röhre zu, bis endlich auch die nahezu leeren Säcke von der Strömung erfasst wurden. Drei Sekunden später war das Wasser wieder klar und still.
»Weißt du was, Niko? Ich habe beschlossen, diesen kleinen Teich Le Cagots Seele zu nennen.«
»Ach ja?«
»Ja. Weil er so klar und rein und durchsichtig ist.«
»Und so heimtückisch und gefährlich?«
»Weißt du, Niko, allmählich keimt in mir der Verdacht, dass du ein Mann der Prosa bist. Das ist ein Fehler.«
»Niemand ist vollkommen.«
»Fass dich an die eigene Nase.«
Der Rückweg zum Fuß des Geröllkegels verlief relativ schnell. Dieses neu entdeckte Höhlensystem war schließlich ein sehr sauberes und leichtes, ohne lange Kriechstrecken durch enge Passagen und um Einbrüche herum, ohne Abgründe, die es zu überwinden galt, denn der unterirdische Fluss wand sich durch ein hartes, festes Schieferbett.
Die jungen Basken an der Winde waren erstaunt, ihre Stimmen schon Stunden, bevor sie sie erwarteten, über die Kopfhörer des Feldtelefons zu vernehmen.
»Wir haben eine Überraschung für Sie«, sagte einer von ihnen über den Draht.
»Was denn?«, erkundigte sich Le Cagot.
»Warten Sie, bis Sie oben sind. Dann werden Sie’s schon erfahren.«
Die lange Tour von der Spitze des Geröllkegels zum Beginn des Korkenzieherschachtes war für beide Männer überaus anstrengend. Der Druck auf Zwerchfell und Brustkorb durch das Hängen in den Fallschirmgurten ist unheimlich stark, und schon manch einer ist daran erstickt. Eben dieses Zusammenpressen des Zwerchfells war auch die Ursache für Christi Kreuzestod – ein Vergleich, der Le Cagots Aufmerksamkeit nicht entging und ihm entsprechende Bemerkungen entlockte.
Um die Tortur des Hängens in den Gurten und des Ringens nach Atem abzukürzen, traten die Burschen an der Winde heldenmütig in die Pedale, bis der Mann unten innerhalb des Korkenziehers Halt fand, sich ausruhen und ein bisschen Sauerstoff tanken konnte.
Hel kam als Letzter herauf; den größten Teil der Ausrüstung hatte er für zukünftige Expeditionen unten gelassen. Nachdem er den Doppeldieder an schlaffem Seil überwunden hatte, war es nur noch ein kurzes Stück bis zum Boden des gouffre. Und dann tauchte er aus der blendenden Finsternis auf … in eine ebenso blendende Helligkeit.
Während sie unten die Höhle erforschten, war eine ungewöhnliche atmosphärische Inversion in die Berge eingedrungen und hatte das gefährlichste aller Wetterphänomene bewirkt: ein Whiteout.
Seit mehreren Tagen schon hatten Hel und seine Bergsteigerfreunde gewusst, dass sich die Wetterbedingungen auf ein Whiteout hin entwickelten, denn wie alle Basken der Haute Soule waren sie ständig, wenn auch unbewusst, auf die Wetterschemata eingestimmt, die man vom ausdrucksvollen baskischen Himmel ablesen kann, wenn die herrschenden Winde in ihrem uralten regelmäßigen Turnus um den Kompass streichen. Zuerst fegt Ipharra, der Nordwind, die Wolken fort und zaubert ein kaltes grünlich-blaues Licht in den baskischen Himmel, das die fernen Berge tönt und sie in Dunst hüllt. Das Ipharra- Wetter
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