Shibumi: Thriller (German Edition)
inkonsequente Gegner aus Fleisch und Blut. In diesem Fall würden Schritte aus unlogischen Motiven heraus unternommen werden; menschliche Filter würden sich zwischen Ursache und Wirkung schieben. Das Ganze roch nach Leidenschaft und saurem Schweiß.
Mit einem tiefen Atemzug stieß Hel einen langen Seufzer aus. »Nun?«, fragte er laut. »Was halten Sie von all dem?«
Er bekam keine Antwort. Er spürte, wie ihre Aura zwischen dem Wunsch zur Flucht und der Angst, sich zu rühren, hin und her zuckte. Er schob die Tür zum Teezimmer auf und winkte sie zu sich herein.
Hannah Stern stand an der Tür, die Haare klatschnass vom Regen; das durchweichte Kleid klebte ihr am Körper. Es war ihr unangenehm, beim Horchen ertappt zu werden, aber ihr Trotz hinderte sie daran, sich zu entschuldigen. In ihren Augen überwog die schwerwiegende Bedeutung der anstehenden Angelegenheit die Rücksicht auf gesellschaftliche Normen und höfliches Verhalten. Hel hätte ihr erklären können, dass die »kleineren« Tugenden auf lange Sicht diejenigen sind, die wirklich zählen. Auf Höflichkeit ist mehr Verlass als auf die gefühlsbeladenen Tugenden des Mitgefühls, der Nächstenliebe und der Aufrichtigkeit; schlichtes Fair play ist wichtiger als abstrakte Gerechtigkeit. Die Haupttugenden neigen stets dazu, sich unter dem Druck bequemer Rationalisierung aufzulösen. Gute Manieren aber sind und bleiben gute Manieren; sie halten dem Sturm der Ereignisse unwandelbar stand.
Hel hätte ihr dies alles erklären können, aber er war an ihrer geistigen Weiterbildung nicht interessiert und hatte auch kein Verlangen danach, das Unvollkommene zu garnieren. Sie hätte ohnehin nur die Worte verstanden, und selbst wenn sie deren Bedeutung ergründete – was nützten die Barrieren und Fundamente guter Manieren einer Frau, die ihr Leben in irgendeinem Scarsdale verbringen würde?
»Nun?«, fragte er abermals. »Was halten Sie also davon?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass die so … so organisiert, so … so kaltblütig sind! Ich habe Ihnen eine Menge Scherereien gemacht, nicht wahr?«
»Ich mache Sie für nichts, was bisher geschehen ist, verantwortlich. Ich weiß schon lange, dass ich dem Schicksal gegenüber noch eine Schuld zu begleichen habe. In Anbetracht der Tatsache, dass meine Arbeit gegen die Normen der sozialen Struktur verstoßen hat, hätte ich eine gewisse Menge Pech erwarten sollen. Ich habe dieses Pech nicht gehabt, daher habe ich eine Schicksalsschuld, eine Portion Antichance gegen mich. Sie waren nur das Vehikel zur Wiederherstellung des Schicksalsgleichgewichts, aber ich halte Sie nicht für die Ursache. Können Sie mir folgen?«
Sie zuckte die Achseln. »Was werden Sie tun?«
Das Gewitter zog ab; der aufsteigende Wind blies vom Garten herein und ließ Hannah in ihrem nassen Kleid erschauern.
»Da drüben in der Kommode liegen wattierte Kimonos. Ziehen Sie das nasse Zeug aus.«
»Danke, es geht schon.«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage! Die tragische Heldin mit einem Schnupfen ist eine allzu absurde Vorstellung.«
Es passte zu ihren zu kurzen Shorts, der zu weit aufgeknöpften Bluse und dem Erstaunen, das Hannah vortäuschte (das sie aber selbst für echt hielt), wenn Männer sie als Objekt betrachteten, dass sie jetzt ihr nasses Kleid ablegte, bevor sie den trockenen Kimono hervorholte. Sie hätte sich nie eingestanden, dass sie aus ihrem begehrenswerten Körper, der verfügbar zu sein schien, gesellschaftlichen Nutzen zog. Und wenn sie darüber nachgedacht hätte, dann hätte sie ihren automatischen Exhibitionismus als gesundes Akzeptieren des eigenen Körpers bezeichnet, als den begrüßenswerten Mangel an Hemmungen.
»Was werden Sie tun?«, fragte sie abermals, als sie sich in den warmen Kimono hüllte.
»Richtiger wäre es zu fragen: was werden Sie tun? Wollen Sie noch immer weitermachen? Sich von der Brücke stürzen in der Hoffnung, dass ich hinterherspringe?«
»Würden Sie das denn tun? Hinterherspringen?«
»Ich weiß es nicht.«
Hannah starrte in den dunklen Garten hinaus und wickelte sich fester in den bequemen Kimono. »Ich weiß nicht … Ich weiß nicht … Gestern erst war alles noch so klar. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte, was der richtige und gerechte Weg war.«
»Und nun?«
Sie zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. »Ihnen wäre es sicher lieber, wenn ich nach Hause zurückkehrte und alles vergäße, nicht wahr?«
»Ja. Und das könnte unter Umständen gar
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