Shibumi: Thriller (German Edition)
sein rasendes Herz zu beruhigen. Von nun an durfte er sich nicht mehr längere Zeit ausruhen, durfte weder Beinen und Händen Gelegenheit geben, steif zu werden, noch der Angst gestatten, seine Entschlusskraft zu lähmen.
Das ohrenbetäubende Donnern des Wasserfalls und der wirbelnde Sprühnebel schützten seinen Verstand vor jedem Gedanken, der weiter gereicht hätte als bis zu der unmittelbar vor ihm liegenden Aufgabe. Er schob sich den glitschigen, abgeschliffenen Sims entlang, der einst den Abschluss des Wasserfalls gebildet hatte, bis er den Felsvorsprung fand, von dem aus Le Cagot ihn während des ersten Abstiegs vor dem blanken Vorhang stürzender Wassermassen gesichert hatte. Diesmal würde es keine Sicherung geben. Er ließ sich zentimeterweise hinab und stieß bald auf den ersten Haken, den er damals eingeschlagen hatte; er ließ einen Karabiner einschnappen, verknotete das doppelt geschlungene Seil und wiederholte diesen Prozess bei jedem Haken, um seinen Sturz abzukürzen, sollte er aus der Wand fallen. Aber wieder, wie beim ersten Mal, dauerte es nicht lange, und die Reibung des Seils in den Karabinerhaken erschwerte das Nachziehen und machte es gefährlich, denn die Anstrengung drohte ihn aus den knappen Fuß- und Fingerhalten, die er in der Wand entdeckte, herauszuheben.
Wasser und Seil marterten seine Handflächen, und er klammerte sich immer fester an die Haltegriffe, als wollte er den Schmerz durch absichtliche Übertreibungen bestrafen. Als er an den Punkt gelangte, wo er den Wasservorhang durchbrechen und sich hinter den Fall schwingen musste, entdeckte er, dass er kein Seil mehr nachziehen konnte. Das Gewicht des Wassers auf dem Seil, die Anzahl der Karabiner, durch die es gezogen war, und seine ständig zunehmende Schwäche machten es ihm einfach unmöglich. Er würde das Seil zurücklassen und von hier aus ungesichert weiterklettern müssen. Wie beim letzten Mal streckte er den Arm durch den silbrig schwarzen Wasservorhang, der sich sofort zu einem schweren pulsierenden Armband um sein Handgelenk schloss. Er tastete herum und stieß auf die unsichtbar hinter dem Wasser liegende kleine scharfe Spalte, in die er damals seine Finger gekrallt hatte. Das Tauchen durch den Wasserfall würde diesmal schwieriger sein. Die Pressluftflasche bot dem Wasser eine zusätzliche Angriffsfläche; seine Finger waren wund und gefühllos; und seine letzten Kraftreserven waren erschöpft. Eine einzige glatte Bewegung. Einfach hindurchschwingen. Hinter der Kaskade liegt ein schöner Sims samt einer Ecke mit einem Geröllhaufen, über den man leicht hinabklettern kann. Er holte dreimal ganz tief Luft und schwang sich durch den Wasservorhang.
Die jüngsten Regengüsse hatten den Wasserfall auf das Doppelte anschwellen lassen und ihn auch doppelt so schwer gemacht. Das Gewicht trommelte auf Helm und Schultern und suchte ihm die Flasche vom Rücken zu schlagen. Seine gefühllosen Finger wurden aus der scharfen Spalte gerissen; und er stürzte.
Als Erstes fiel ihm die relative Stille auf. Und dann das Wasser. Er saß hinter dem Fall, am Fuß des Geröllhaufens, und war bis zur Hüfte nass. Möglicherweise war er eine ganze Weile bewusstlos gewesen, aber er hatte keine Vorstellung von der Zeit. In seiner Erinnerung folgten die Ereignisse dicht aufeinander: das Hämmern des Wassers auf Rücken und Flasche; der Schmerz, als seine wunden Finger aus der Spalte gerissen wurden; Geklapper, Lärm, Schmerz, Schock, als er auf dem Geröllhaufen aufschlug und kopfüber hinabkugelte – und dann dieses relative Schweigen und das hüfttiefe Wasser, wo früher nur nasser Fels gewesen war. Die Stille war keine Einbildung; die Sinne hatte es ihm nicht verschlagen. Er hatte ja schon letztes Mal bemerkt, dass der Wasserfall das Tosen zu dämpfen schien, sobald er sich hinter dem Vorhang befand. Aber das Wasser hier? Bedeutete das etwa, dass kürzlich Regen durchgesickert war und den Boden der Kristallhöhle in einen See verwandelt hatte?
War er verletzt? Er bewegte die Beine; sie waren in Ordnung. Die Arme ebenfalls. Seine rechte Schulter war angeknackst. Er konnte sie zwar heben, doch bei der Bewegung spürte er einen knirschenden Schmerz. Wahrscheinlich eine Prellung. Schmerzhaft, aber nicht weiter schlimm. Gerade hatte er entschieden, dass er den Sturz wunderbarerweise unverletzt überstanden hatte, als er sich plötzlich eines merkwürdigen Gefühls bewusst wurde. Seine Zähne standen nicht richtig aufeinander. Der geringste
Weitere Kostenlose Bücher