Shibumi: Thriller (German Edition)
im Tiefsten, Wesentlichsten nicht. Für den General war shibumi eine Art Unterwerfung; für Nikolai war es eine Form der Macht.
Beide waren sie Gefangene ihrer Generation.
Nikolai reiste mit einem Schiff nach Japan, das verwundete Soldaten für einen Familienbesuch, eine Auszeichnung, einen Lazarettaufenthalt oder ein Leben unter der Last der Verstümmelung in die Heimat zurückbrachte. Der gelbe Schlamm des Jangtse folgte dem Schiff noch meilenweit hinaus aufs offene Meer, und erst als das Khakigelb in Schieferblau überging, entfaltete Nikolai das schlichte Tuch, in das Kishikawa-sans Abschiedsgeschenk gehüllt war. In einem zierlichen Sandelholzkästchen lagen, in weiches Papier gewickelt, damit sie keinen Schaden litten, zweiGo- ke aus schwarzem, in Heidatsu-Arbeit mit Silber eingelegtem Lack. Auf den Deckeln der Schalen schmiegten sich dunstverhüllte Teehäuser an die Ufer ungenannter Seen. Die eine Schale enthielt schwarze Nichi-Steine aus Kishiu, die andere weiße Steine aus Miyazaki-Perlmutt … glänzend, bei jedem Wetter erstaunlich kühl, wenn man sie anfasste.
Wer auch immer den zarten, jungen Mann beobachtete, der an der Reling des rostigen Frachters lehnte und dessen grüne Augen gedankenlos dem Auf und Ab der Wellen folgten, während er über die beiden Geschenke nachsann, die der General ihm gemacht hatte – die Go- ke und die Lebensaufgabe des shibumi –, niemand hätte vermutet, dass aus ihm der höchstbezahlte Profikiller der Welt werden sollte.
WASHINGTON
Der Erste Assistent richtete sich von seinem Computer auf, seufzte tief, schob die Brille auf die Stirn und rieb sich die roten Druckstellen auf dem Nasenrücken. »Es wird schwierig sein, zuverlässige Informationen von Fat Boy zu bekommen, Sir. Die Inputquellen liefern dauernd einander widersprechende oder unvollständige Daten. Sind Sie sicher, dass er in Shanghai geboren ist?«
»Ziemlich sicher.«
»Tja, darüber haben wir überhaupt nichts. Chronologisch gesehen lautet die erste Auskunft, die ich bekommen konnte, dass er in Japan gelebt hat.«
»Na schön. Dann fangen Sie eben damit an.«
Der Erste Assistent meinte, sich gegen die Verärgerung in Mr. Diamonds Ton wehren zu müssen. »So leicht, wie Sie sich das vorstellen, ist es nicht, Sir. Hören Sie nur eine Kostprobe von dem Unsinn, der mir vorgesetzt wird. Unter der Rubrik ›Sprachkenntnisse‹ habe ich Russisch, Französisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch, Japanisch und Baskisch. Baskisch? Das kann doch nicht wahr sein, oder?«
»Es ist aber wahr.«
»Baskisch? Warum sollte jemand Baskisch lernen?«
»Ich weiß es nicht. Er hat es im Gefängnis studiert.«
»Im Gefängnis, Sir?«
»Darauf werden Sie später noch stoßen. Er hat drei Jahre in Einzelhaft verbracht.«
»Sie … Sie scheinen erstaunlich gut über ihn informiert zu sein, Sir.«
»Ich habe ihn jahrelang im Auge behalten.«
Der Erste Assistent hätte gern gefragt, warum er diesem Nikolai Hel eine so besondere Aufmerksamkeit gewidmet hatte, besann sich aber eines Besseren. »Na schön, Sir. Baskisch stimmt also. Aber wie ist es hiermit? Unsere ersten sicheren Daten stammen aus der Zeit unmittelbar nach dem Krieg, als er offenbar als Dechiffrierer und Übersetzer für die Besatzungsmacht arbeitete. Wenn wir aber davon ausgehen, dass er Shanghai zu dem von uns angenommenen Zeitpunkt verlassen hat, bleiben noch fünf oder sechs ungeklärte Jahre. Die einzige Auskunft, die Fat Boy mir über diesen Zeitraum gibt, klingt absolut unlogisch. Es heißt, er habe diese Jahre mit dem Studium eines Brettspiels verbracht. Eines Brettspiels namens Go – was auch immer das sein mag.«
»Ich glaube, das stimmt.«
»Ist denn das möglich? Den ganzen Zweiten Weltkrieg hat er damit verbracht, ein Brettspiel zu erlernen?« Der Erste Assistent schüttelte den Kopf. Weder er noch Fat Boy konnten sich mit Schlussfolgerungen abfinden, die nicht solider linearer Logik entsprangen. Und es war einfach unlogisch, dass ein internationaler Profikiller mit violetter Karte fünf oder sechs Jahre (großer Gott! Sie wussten ja nicht mal genau, wie viele!) damit verbracht haben sollte, ein albernes Brettspiel zu erlernen!
JAPAN
Nahezu fünf Jahre lang lebte Nikolai im Haus von Otake-san als Student und Familienmitglied. Otake vom Siebten Dan war ein Mann mit zwei gegensätzlichen Persönlichkeiten: Beim Wettkampf war er listig, kaltblütig, bekannt für unnachsichtiges Ausnutzen jeder kleinsten Schwäche oder geistigen Unbeweglichkeit
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