Shibumi: Thriller (German Edition)
Stein auf dem Nagel des Zeigefingers balanciert, während seine Gedanken vom Spielbrett vor ihm abschweifen. Zwei Monate sind seit Alexandra Iwanownas Tod vergangen, und der General hat seinen Marschbefehl bekommen. Er kann Nikolai nicht mitnehmen, will ihn aber auch nicht in Shanghai zurücklassen, wo er keine Freunde hat und wo ihm als Staatenlosen selbst der rudimentärste diplomatische Schutz verwehrt ist. So hat er denn beschlossen, den Jungen nach Japan zu schicken.
Der General betrachtet prüfend die feinen Züge der Mutter, die ihm aus dem Gesicht des Jungen nüchterner, kantiger entgegentreten. Wo wird er Freunde finden, dieser junge Mann? Wo wird er einen Boden finden, in dem seine Wurzeln gedeihen, dieser Junge, der sechs Sprachen spricht und in fünfen denkt, dem aber jeglicher Grundstein einer nützlichen Ausbildung fehlt? Gibt es auf der Welt überhaupt einen Platz für ihn?
»Sir?«
»Ja? Ach so … Hast du gesetzt, Nikko?«
»Schon lange, Sir.«
»Ah ja. Entschuldige. Würdest du mir bitte deinen Zug zeigen?« Nikolai deutete auf den Stein, und Kishikawa-san runzelte die Stirn, weil diese außergewöhnliche Platzierung eine Andeutung von tenuki verriet. Er zwang sich zur Konzentration, musterte sorgfältig das Spielbrett und überprüfte im Geist die Folgen jeder ihm zur Verfügung stehenden Platzierung. Als er aufblickte, waren Nikolais meergrüne Augen auf ihn gerichtet, und der Junge lächelte triumphierend. Das Spiel konnte noch stundenlang weitergehen, und das Ergebnis würde knapp ausfallen. Aber Nikolais Sieg war nicht mehr abzuwenden. Zum ersten Mal.
Der General sah Nikolai einige Sekunden lang abwägend an, dann lachte er auf. »Nikko, du bist ein Teufel!«
»Das stimmt, Sir«, gab Nikolai vergnügt zu, denn er war ungeheuer zufrieden mit sich. »Sie waren nicht bei der Sache.«
»Und das hast du ausgenutzt?«
»Selbstverständlich.«
Der General begann seine Steine einzusammeln und sie in seinGo -ke zu legen. »Ja«, wiederholte er bei sich. »Selbstverständlich.« Dann lachte er abermals. »Was hältst du von einer Tasse Tee, Nikko?« Kishikawa-sans größtes Laster war seine Gewohnheit, zu allen Tages- und Nachtzeiten starken, bitteren Tee zu trinken. In der Symbolsprache ihrer liebevollen, aber zurückhaltenden Freundschaft bedeutete die Einladung zu einer Tasse Tee die Aufforderung zu einem Plauderstündchen. Während der Bursche des Generals den Tee zubereitete, traten die beiden, in yukatas gehüllt, in die kühle Nachtluft der Veranda hinaus.
Nach einer Schweigepause, während der die Blicke des Generals über die Stadt schweiften, wo hier und da noch ein Licht innerhalb der ummauerten Altstadt blinkte und verriet, dass jemand feierte oder studierte oder starb oder sich verkaufte, fragte er Nikolai scheinbar zusammenhanglos: »Denkst du jemals über den Krieg nach, Nikko?«
»Nein, Sir. Er geht mich nichts an.«
Der Egoismus der Jugend. Der zuversichtliche Egoismus eines jungen Mannes, der in dem Bewusstsein aufgewachsen war, der Letzte und Beste eines sorgfältig gezüchteten Geschlechts zu sein, das seinen Anfang genommen hatte, lange bevor ein Kesselflicker Henry Ford wurde, ein Geldwechsler zum Rothschild und ein Kaufmann zum Medici aufstiegen.
»Ich fürchte, Nikko, dass unser kleiner Krieg dich jetzt doch etwas angehen wird.« Nach dieser Einleitung berichtete der General dem jungen Mann von dem Befehl, der ihn an die Front rief, und von seinem Plan, Nikolai nach Japan zu schicken, wo er im Hause eines berühmten Go-Spielers und -Lehrers wohnen sollte.
»… bei meinem ältesten und besten Freund, Otake-san, den du dem Namen nach als Otake vom Siebten Dan kennen wirst.«
Nikolai war dieser Name tatsächlich bekannt. Er hatte Otake-sans glänzende Kommentare über das Mittelspiel gelesen.
»Ich habe dafür gesorgt, dass du mit den anderen Schülern bei Otake-san und seiner Familie wohnen kannst. Das ist eine große Ehre für dich, Nikko.«
»Dessen bin ich mir bewusst, Sir. Und ich finde es aufregend, von Otake-san lernen zu dürfen. Aber wird er es nicht verächtlich von sich weisen, seine Lehren an einen Amateur zu verschwenden?«
Der General lachte. »Verachtung entspricht nicht dem Stil meines alten Freundes. Ah! Unser Tee ist fertig.«
Der Bursche hatte das Go -ban aus kaya fortgeräumt und an seinen Platz ein niedriges, für den Tee gedecktes Tischchen gestellt. Der General und Nikolai kehrten zu ihren Sitzkissen zurück. Nach der ersten Tasse lehnte
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