Shibumi: Thriller (German Edition)
sich Kishikawa-san ein wenig zurück und begann in sachlichem Ton zu sprechen. »Deine Mutter besaß, wie sich herausgestellt hat, sehr wenig Geld. Sie hatte ihre Investitionen auf kleine hiesige Firmen verteilt, die fast alle kurz vor unserem Einmarsch in Konkurs gingen. Die Besitzer dieser Firmen sind einfach mit dem Kapital in der Tasche nach England zurückgekehrt. Für Europäer macht die große moralische Krise des Krieges mindere ethische Überlegungen offensichtlich hinfällig. Es gibt noch das Haus … doch darüber hinaus nur sehr wenig. Ich habe veranlasst, dass das Haus für dich verkauft wird. Der Erlös ist für deinen Unterhalt und den Unterricht in Japan bestimmt.«
»Wie Sie es für richtig halten, Sir.«
»Gut. Sage mir, Nikko – wirst du Shanghai vermissen?«
Nikolai überlegte nur eine Sekunde. »Nein.«
»Wirst du dich in Japan einsam fühlen?«
Nikolai zögerte einen Augenblick. »Ja.«
»Ich werde dir schreiben.«
»Oft?«
»Nein, nicht oft. Einmal im Monat. Aber du musst mir immer schreiben, wenn du das Bedürfnis danach hast. Vielleicht bist du dort weniger einsam, als du jetzt fürchtest. Bei Otake-san studieren noch einige andere junge Leute. Und wenn du Zweifel, Ideen, Fragen hast, wirst du feststellen, dass es sich lohnt, mit Otake-san darüber zu diskutieren. Er wird dir interessiert zuhören, aber er wird dich nicht mit seinen Ratschlägen belästigen.« Der General lächelte. »Obwohl ich glaube, dass du eine der Redegewohnheiten meines Freundes bisweilen ein wenig verwirrend finden wirst. Er spricht über alle Probleme in den Termini des Go-Spiels.«
»Das klingt, als könnte ich ihn gernhaben, Sir.«
»Ich bin sicher, dass du ihn gernhaben wirst. Ich zolle ihm den allergrößten Respekt. Er besitzt die Eigenschaft des … wie soll ich es ausdrücken? … des shibumi.«
»Shibumi, Sir?« Nikolai kannte das Wort, doch nur im Zusammenhang mit Gärten oder Architektur, wo es so viel bedeutete wie ein Understatement von Schönheit. »Wie verwenden Sie diesen Ausdruck hier, Sir?«
»Ach, eigentlich nicht fest umrissen. Und, wie ich fürchte, unzutreffend. Ein ungeschickter Versuch, eine unbeschreibbare Eigenschaft zu beschreiben. Wie du weißt, hat shibumi etwas zu tun mit größter Verfeinerung, die unter einer alltäglichen Erscheinung verborgen liegt. Es ist eine Aussage, so zutreffend, dass sie nicht deutlich definiert zu sein braucht, so genau, dass sie nicht außergewöhnlich zu sein braucht, so wahr, dass sie nicht real zu sein braucht. Shibumi ist eher Verstehen als Wissen. Sprechendes Schweigen. Im menschlichen Verhalten ist es Sittsamkeit ohne Prüderie. In der Kunst, in der das Wesen des shibumi die Form des sabi annimmt, ist es elegante Schlichtheit, ausdrucksvolle Kürze. In der Philosophie, in der shibumi als wabi erscheint, ist es geistige Gelassenheit, die nicht passiv ist, ist es Sein ohne die Angst des Werdens. Und in der Persönlichkeit des Menschen ist es … Wie soll ich es sagen? Autorität ohne Herrschsucht. So etwas Ähnliches jedenfalls.«
Nikolais Fantasie war wie elektrisiert von diesem Konzept des shibumi. »Wie erreicht man dieses shibumi, Sir?«
»Man erreicht es nicht, man … entdeckt es. Und nur sehr wenige, ganz und gar vergeistigte Menschen entdecken es je. Menschen wie mein Freund Otake-san.«
»Heißt das, man muss sehr viel lernen, um zum shibumi zu gelangen?«
»Es bedeutet eher, dass man den Zustand des Wissens durchmessen und zur Einfachheit gelangen muss.«
Von diesem Augenblick an war Nikolais Hauptziel im Leben, eine shibumi -Persönlichkeit zu werden; ein Mensch voll unerschütterlicher Ruhe. Dies war eine Berufung, die ihm offenstand, während die meisten anderen ihm aus Gründen der Herkunft, der Erziehung und der Veranlagung verschlossen blieben. Im Streben nach shibumi konnte er ungesehen brillieren, ohne die Aufmerksamkeit und Rachsucht der tyrannischen Massen auf sich zu ziehen.
Kishikawa-san zog ein kleines, in ein schlichtes Tuch gewickeltes Sandelholzkästchen unter dem Teetisch hervor und legte es in Nikolais Hände. »Ein kleines Abschiedsgeschenk, Nikko.«
Nikolai neigte gerührt den Kopf und empfing das Päckchen mit großer Bewegung; er versagte es sich, seiner Dankbarkeit mit unzulänglichen Worten Ausdruck zu verleihen. Und das war seine erste bewusste shibumi -Handlung.
Obwohl sie noch bis tief in die Nacht hinein über die fassbare und die potenzielle Bedeutung von shibumi sprachen, verstanden sie einander
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