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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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geschulten Verstandes ist … und seine Grenze. Andererseits aber, da Nikolai zwar aus bestem europäischem Adel stammte, jedoch im Schmelztiegel China aufgewachsen war, konnte man ihn da überhaupt als Westler bezeichnen? Nun, ein Asiate war er jedenfalls auch nicht. Er gehörte weder der europäischen noch der chinesischen Kultur an. Vielleicht war er der einzige Angehörige seiner ganz persönlichen Kultur?
    »Sie und ich, Sir, wir teilen diese Schwäche.« Nikolais grüne Augen zwinkerten humorvoll. »Auf jenem Gebiet, das ich Poesie nenne, sind wir beide unzulänglich.«
    Überrascht blickte der General auf. »Ach ja?«
    »Jawohl, Sir. Meinem Spiel fehlt viel von dieser Eigenschaft. Und das Ihre besitzt zu viel davon. Dreimal während dieser Partie war Ihr Angriff nicht hart genug. Sie zogen das elegante Spiel dem konsequenten vor.«
    Kishikawa-san lachte leise. »Woher willst du wissen, dass ich nicht auf dein Alter und deine relative Unerfahrenheit Rücksicht genommen habe?«
    »Das wäre herablassend und unfreundlich gewesen, und beides sind Sie meiner Ansicht nach nicht.« Wieder lächelten Nikolais Augen. »Schade, Sir, dass es im Französischen keine Höflichkeitssilben gibt. Dadurch wirkt meine Redeweise wahrscheinlich abrupt und unziemlich.«
    »Ja, ein wenig. Darüber hatte ich auch gerade nachgedacht.«
    »Es tut mir leid, Sir.«
    Der General nickte. »Ich nehme an, du beherrschst auch das westliche Schachspiel?«
    Nikolai zuckte mit den Achseln. »Ein wenig. Aber es interessiert mich nicht.«
    »Wie würdest du es mit Go vergleichen?«
    Nikolai überlegte einen Moment. »Nun … Was Go für Philosophen und Krieger ist, das ist Schach für Buchhalter und Kaufleute.«
    »Aha! Die Bigotterie der Jugend! Es wäre freundlicher, Nikko, wenn du sagtest, dass Go den Philosophen im Menschen, Schach dagegen den Kaufmann in ihm anspricht.«
    Nikolai blieb jedoch fest. »Jawohl, Sir. Freundlicher schon. Aber weniger zutreffend.«
    Der General erhob sich von seinem Kissen; er überließ es Nikko, die Steine einzuräumen. »Es ist spät, und ich brauche meinen Schlaf. Wenn du Lust hast, spielen wir bald wieder eine Partie zusammen.«
    »Sir?«, fragte Nikolai, als der General zur Tür ging.
    »Ja?«
    Nikolai hielt den Blick gesenkt, um sich vor der Demütigung einer möglichen Zurückweisung zu schützen. »Könnten wir Freunde werden, Sir?«
    Der General schenkte der Frage die Beachtung, die ihr ernsthafter Ton verlangte. »Es wäre möglich, Nikko. Wir wollen’s abwarten.«
    In dieser Nacht entschied Alexandra Iwanowna endgültig, der General Kishikawa gehöre nicht zu der Sorte Männer, die sie bisher kennengelernt hatte, und klopfte an seine Schlafzimmertür.
    Während der nächsten anderthalb Jahre lebten sie wie eine Familie zusammen. Alexandra Iwanowna wurde stiller, zufriedener, vielleicht auch ein bisschen rundlicher. Was sie an Lebhaftigkeit einbüßte, gewann sie jedoch an attraktiver Gelassenheit, so dass Nikolai seine Mutter zum ersten Mal in seinem Leben mochte. Ohne Übereilung bauten er und der General eine Freundschaft zueinander auf, die ebenso tief wie zurückhaltend war. Der eine hatte nie einen Vater gehabt, der andere niemals einen Sohn. Kishikawa-san bereitete es Freude, einen gelehrigen, gescheiten jungen Mann zu leiten und zu formen, wenn dieser auch zuweilen ein wenig zu kühne Meinungen vertrat und sich seiner Vorzüge ein wenig zu sicher war.
    Alexandra Iwanowna fand im Schutz der starken, sanften Persönlichkeit des Generals emotionalen Halt. Ihm bereiteten ihr aufloderndes Temperament und ihre witzige Klugheit Abwechslung und Vergnügen. Zwischen dem General und der Gräfin herrschten Höflichkeit, Großzügigkeit, Sanftheit und körperliche Freuden. Zwischen dem General und dem Jungen bestanden Vertrauen, Aufrichtigkeit, Ausgeglichenheit, Zuneigung und Respekt.
    Und dann, eines Abends nach dem Essen, scherzte Alexandra Iwanowna wie üblich über ihre lästigen Schwächezustände, zog sich zeitig zurück – und starb in derselben Nacht.
    Der Himmel im Osten ist schwarz, doch über China leuchtet purpurne Abendröte. Draußen in der schwimmenden Stadt erlöschen die orangefarbenen und gelben Laternen, machen die Menschen auf den schrägen Decks der im Schlamm steckenden Sampans ihre Betten. Die Luft hat sich über den dunklen Ebenen des chinesischen Binnenlandes abgekühlt, die Brise vom Meer hat sich gelegt. Die Vorhänge blähen sich nicht mehr im Wind, als der General jetzt einen

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