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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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im Spiel seines Gegners. Zu Hause jedoch, in seinem weitläufigen, eher desorganisierten Haushalt, inmitten seiner vielköpfigen Familie, zu der außer seinem Vater, seiner Frau und drei Kindern nie weniger als sechs Schüler gehörten, war Otake-san väterlich, großzügig, ja sogar bereit, zum Vergnügen seiner Kinder und Schüler den Clown zu spielen. Geld gab es niemals im Überfluss, aber sie lebten in einem kleinen Bergdorf, das kaum kostspielige Zerstreuungen bot, und so erwuchs daraus auch kein Problem. Hatten sie wenig, lebten sie bescheiden; hatten sie mehr, gaben sie das Geld großzügig aus.
    Keines von Otake-sans Kindern besaß eine überdurchschnittliche Begabung für die Kunst des Go-Spiels. Und von seinen Schülern erfreute sich nur Nikolai jener unerklärlichen Konstellation von Talenten, die einen Spieler von Rang auszeichnen: Veranlagung zum Ersinnen abstrakter schematischer Möglichkeiten; Sinn für mathematische Poesie, in deren Licht das unendliche Chaos aus Wahrscheinlichkeiten und Permutationen sich unter dem Druck intensiver Konzentration zu geometrischen Blüten kristallisiert; Wille zum rücksichtslosen Krafteinsatz gegenüber den Schwächen des Opponenten.
    Mit der Zeit entdeckte Otake-san bei Nikko jedoch eine zusätzliche Eigenschaft, die seinem Spiel zugutekam: Nikolai vermochte sich mitten in einer Partie für kurze Zeiträume in tiefster Ruhe zu entspannen, um anschließend geistig vollkommen erfrischt zum Spiel zurückzukehren.
    Otake-san war es, der als Erster erkannte, dass Nikolai ein Mystiker war. Wie die meisten Mystiker ahnte auch Nikolai nichts von seiner Begabung und wollte zuerst gar nicht glauben, dass andere Menschen keine derartigen Erlebnisse hatten. Ein Leben ohne mystische Entrückung konnte er sich nicht vorstellen, und jene, die ohne solche Erfahrungen leben mussten, bemitleidete er nicht, sondern betrachtete sie als Wesen anderer Art. Nikolais mystische Begabung kam eines Nachmittags ans Licht, als er mit Otake-san eine Übungspartie spielte, eine streng klassische Partie, bei der sie nur in geringfügigen Nuancen der Spielentwicklung von den Modellen der Lehrbücher abwichen. Nach etwa zweieinhalb Stunden spürte Nikolai, dass sich ihm das Tor zur Ruhe und zum Einssein öffnete, und er gestattete sich, hindurchzugehen. Nach einer Weile verschwand das Gefühl wieder, und Nikolai saß regungslos, doch völlig entspannt da und fragte sich, warum sein Lehrer wohl zögerte, eine auf der Hand liegende Platzierung vorzunehmen. Als er aufschaute, sah er überrascht, dass Otake-sans Blick auf seinem Gesicht ruhte, statt auf dem Go -ban.
    »Was ist, Lehrer? Habe ich einen Fehler gemacht?«
    Otake-san musterte Nikolai aufmerksam. »Nein, Nikko. Deine beiden letzten Züge waren zwar nicht gerade brillant, aber falsch waren sie auch nicht. Nur … wie kannst du spielen, während du vor dich hin träumst?«
    »Ich – vor mich hin träumen? Ich habe nicht geträumt, Lehrer.«
    »Wirklich nicht? Dein Blick war abwesend, dein Ausdruck leer. Du hast nicht mal auf das Brett geschaut, als du deine Platzierungen vornahmst. Du hast die Steine gesetzt und dabei in den Garten hinausgeblickt.«
    Nikolai nickte lächelnd. Jetzt begriff er. »Ach so. Ich war gerade vom Ausruhen zurückgekehrt. Deswegen habe ich natürlich nicht auf das Brett zu sehen brauchen.«
    »Bitte, Nikko, erkläre mir, warum du nicht auf das Brett zu sehen brauchtest.«
    »Ich … nun ja, ich habe mich ausgeruht.« Nikolai sah, dass Otake-san ihn nicht verstand, und das verwirrte ihn, nahm er doch an, ein jeder Mensch habe mystische Erfahrungen.
    Otake-san lehnte sich zurück und nahm noch eines von den Pfefferminzdrops, die er gewohnheitsmäßig lutschte, um die Schmerzen in seinem Magen zu lindern, die von den langen Jahren strenger Selbstbeherrschung unter dem Druck des professionellen Spielens herrührten. »Und jetzt erkläre mir, was du damit meinst, dass du dich ausgeruht hast.«
    »Ich fürchte, ›ausruhen‹ ist nicht das richtige Wort dafür, Lehrer. Ich weiß nicht, wie man es nennt. Ich habe noch nie gehört, dass jemand eine Bezeichnung dafür gebraucht hätte. Aber Sie müssen dieses Gefühl, von dem ich spreche, doch kennen! Dieses Sichentfernen, ohne wegzugehen. Dieses … Sie wissen schon … Dieses Hinüberfließen in einen Gegenstand und … dieses Begreifen aller Dinge.« Nikolai war verlegen. Die Erfahrung war zu selbstverständlich und zu elementar, um sie erklären zu können. Es war, als

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