Shibumi: Thriller (German Edition)
sie mich auf einen Tisch, zwangen mir einen Gummischlauch in den Hals und ernährten mich auf flüssigem Wege. Es war grauenvoll … demütigend … essen und erbrechen gleichzeitig. Es war entwürdigend. Darum versprach ich, wieder zu essen. Und hier bin ich.«
Während dieser stockenden Erklärung hatte Kishikawa-san den Blick nicht von der rauen Tischplatte gehoben.
Nikolais Augen brannten von zurückgehaltenen Tränen. Er starrte geradeaus und wagte es nicht, die Lider zu schließen, weil ihm die Tränen sonst über die Wangen gelaufen wären und seinen Vater – das heißt, seinen Freund – in Verlegenheit gebracht hätten.
Kishikawa-san atmete tief durch und hob den Kopf. »Nein. Nein, Nikko, das hat keinen Sinn. Die Wärter beobachten uns. Diese Genugtuung darfst du ihnen nicht gönnen.« Er streckte die Hand aus und tätschelte Nikolais Wange so energisch, dass es wie ein ermahnender Klaps wirkte. Der amerikanische Sergeant richtete sich misstrauisch auf und machte sich bereit, seinen Genossen von Sphinx vor diesem Gook- General zu schützen.
Doch Nikolai rieb sich mit beiden Händen das Gesicht, als ob er abgespannt sei, und befreite sich so von den Tränen.
»Gut!«, sagte Kishikawa mit neu erwachender Energie. »Jetzt blühen am Kajikawa bald wieder die Kirschbäume. Wirst du hinfahren?«
Nikolai schluckte. »Ja.«
»Das ist schön. Dann haben die Besatzungsmächte sie also nicht gefällt?«
»Gefällt nicht …«
Der General nickte. »Und hast du Freunde, Nikko?«
»Ich … Es leben ein paar Leute bei mir.«
»Wenn ich mich recht erinnere, schrieb mir unser Freund Otake kurz vor seinem Tod, da sei ein junges Mädchen in seinem Haus, eine Schülerin – es tut mir leid, ich kann mich nicht mehr auf ihren Namen besinnen. Aber du warst für ihre Reize anscheinend nicht ganz unempfänglich. Triffst du sie noch?«
Nikolai überlegte, bevor er antwortete. »Nein, Sir«, sagte er dann.
»Doch hoffentlich kein Streit?«
»Nein, Sir. Kein Streit.«
»Ja, ja, in deinem Alter ändern sich die Gefühle schnell. Mit den Jahren wirst du entdecken, dass man sich an manche voll verzweifelter Hoffnung klammert.« Die Anstrengung, Nikolai mit leichtem Geplauder über sein Unbehagen hinwegzuhelfen, schien Kishikawa-sans letzte Kräfte zu erschöpfen. Im Grunde gab es nichts, was er wirklich sagen, und nach den Erlebnissen der letzten zwei Jahre auch nichts, was er gern hören wollte. Er senkte den Kopf, starrte auf die Tischplatte und entglitt in den engen Zyklus der Gedankenfetzen und Erinnerungen aus der Kindheit, mit denen er seine Empfindungen zu betäuben gelernt hatte.
Zuerst fand auch Nikolai in diesem Schweigen Trost. Dann wurde ihm klar, dass sie es nicht gemeinsam erlebten, sondern einzeln und isoliert. Er holte das kleine Go-Brett und das Päckchen mit den Metallsteinen aus der Tasche und stellte beides auf den Tisch.
»Wir können eine ganze Stunde zusammenbleiben, Sir.«
Kishikawa-san zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. »Was? Ach so, ja. Oh, ein Spiel! Ja, das ist gut. Damit können wir uns gemeinsam beschäftigen, ohne Schmerz zu empfinden. Aber ich habe lange nicht gespielt.«
»Ich habe seit Otake-sans Tod auch nicht mehr gespielt, Sir.«
»Ach, wirklich?«
»Ja. Ich fürchte, ich habe die Jahre der Ausbildung verschwendet.«
»Nein. Solche Übung ist niemals verschwendet. Du hast gelernt, dich uneingeschränkt zu konzentrieren, klug zu denken. Abstraktionen zu lieben, in Distanz von alltäglichen Dingen zu leben. Nein, es war keine Verschwendung. Komm, wir spielen.«
Unwillkürlich suchte General Kishikawa in der Erinnerung an ihre erste gemeinsam verbrachte Zeit Zuflucht und vergaß darüber, dass Nikolai ihm als Spieler inzwischen weit überlegen war: Er bot ihm eine Vorgabe von zwei Steinen, die Nikolai natürlich akzeptierte. Eine Zeit lang spielten sie eine unsichere, mittelmäßige Partie, konzentrierten sich nur gerade so weit, dass jene Geisteskräfte absorbiert wurden, die sie sonst mit Erinnerungen und Zukunftsängsten gequält hätten. Schließlich blickte der General auf und seufzte lächelnd. »Es hat keinen Zweck, Nikko. Ich spiele schlecht und vertreibe die ganze aji aus dem Spiel.«
»Ich ebenfalls.«
Kishikawa-san nickte. »Ja. Du auch.«
»Wenn Sie es wünschen, Sir, spielen wir bald einmal wieder. Bei meinem nächsten Besuch. Vielleicht sind wir dann beide besser.«
»Ach, hast du Erlaubnis für einen zweiten Besuch?«
»Ja. Oberst Gorbatow hat
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