Shibumi: Thriller (German Edition)
Intellekt so trainiert, dass er in fließenden Permutationen dachte, statt in dem simplen Problemlösungsraster der westlichen Kulturen. Dann hatte ein schockierendes Erlebnis ihn für lange Zeit auf sich selbst zurückgeworfen. All diese Faktoren stimmten genau mit jenen überein, die den einen Menschen unter Millionen kennzeichnen, der in unserer Zeit die zusätzliche Gabe (oder Bürde) des Proximitätssinnes besitzt.
Dieses ursprüngliche Perzeptionssystem entwickelte sich in Nikolai so langsam und stetig, dass er selbst es ein ganzes Jahr lang nicht entdeckte. Seine Gefängnisexistenz verlief in so vielen kurzen, sich ständig wiederholenden Abschnitten, dass er keinerlei Gefühl für das Vergehen der Zeit außerhalb der Gefängnismauern hatte. Er beschäftigte sich nie mit sich selbst und litt niemals an Langeweile. In scheinbarem Widerspruch zu den Gesetzen der Physik wiegt die Zeit nur schwer, wenn sie unausgefüllt ist.
Die bewusste Erkenntnis seiner Gabe wurde ausgelöst durch einen neuerlichen Besuch von Herrn Hirata. Nikolai saß über seinen Büchern, als er plötzlich den Kopf hob und (auf Deutsch, denn es war Freitag) laut sagte: »Komisch. Warum kommt Herr Hirata heute?« Dann sah er auf seinen improvisierten Kalender und stellte fest, dass tatsächlich seit Herrn Hiratas letztem Besuch schon sechs Monate vergangen waren.
Einige Minuten darauf unterbrach er seine Studien abermals, um sich zu fragen, wer wohl der Fremde bei Herrn Hirata war, denn die Person, deren Näherkommen er spürte, war keiner der ihm vertrauten Wärter, von denen jedem ein bestimmtes Charakteristikum vorausging, das Nikolai sofort erkannte.
Kurze Zeit später wurde die Zellentür aufgeschlossen, und Herr Hirata trat ein, begleitet von einem jungen Mann, der sich für die Sozialarbeit im Strafsystem ausbilden ließ und sich schüchtern im Hintergrund hielt, während der Ältere routiniert seinen Fragebogen durchging und gewissenhaft jede Antwort auf seinem Klemmbrett abhakte.
Auf die letzte und wichtigste Frage antwortete Nikolai, er brauche wieder Papier und Tinte, woraufhin Herr Hirata den Kopf schieflegte und die Luft durch die Zähne sog, um auf die überwältigenden Schwierigkeiten bei der Genehmigung eines solchen Antrags hinzuweisen. Etwas in seinem Verhalten verriet Nikolai jedoch, dass man seinem Gesuch stattgeben würde. Als Herr Hirata gehen wollte, hielt Nikolai ihn zurück: »Entschuldigen Sie. Sind Sie vor ungefähr zehn Minuten schon einmal an meiner Zelle vorbeigekommen?«
»Vor zehn Minuten? Nein. Warum?«
»Sie sind nicht an meiner Zelle vorbeigekommen? Haben Sie dann vielleicht an mich gedacht?«
Die beiden Gefängnisbeamten wechselten einen kurzen Blick. Herr Hirata hatte seinen Lehrling auf den labilen Geisteszustand dieses Gefangenen hingewiesen, der bedenklich zum Selbstmord neigte. »Nein«, begann der Ältere, »ich glaube nicht, dass ich … Einen Moment! Aber ja! Kurz bevor wir diesen Flügel betraten, habe ich mit dem jungen Mann hier über Sie gesprochen.«
»Aha!«, sagte Nikolai. »Daher also. Das erklärt es.«
Seine Besucher wechselten beunruhigte Blicke. »Was erklärt es?«
Nikolai sah ein, dass es ebenso schwierig wie hoffnungslos sein würde, einer Beamtenseele etwas so Abstraktes und Ätherisches wie den Proximitätssinn zuzumuten; deshalb schüttelte er den Kopf und antwortete nur: »Ach nichts. Unwichtig.«
Herr Hirata zuckte die Achseln und ging.
An diesem und am folgenden Tag dachte Nikolai über diese neue Fähigkeit nach, die er an sich entdeckt hatte und die es ihm ermöglichte, auf parasensuellem Wege die körperliche Nähe und auf ihn gerichtete Konzentrationen anderer Menschen zu erfassen. Während der zwanzig Minuten seiner Laufübungen auf dem kleinen Hof unter dem Rechteck stürmischen Himmels schloss er beim Gehen die Augen und versuchte, ob er sich auf einen Punkt der Mauer konzentrieren und spüren konnte, wenn er sich ihm näherte. Wie er feststellte, gelang es ihm, ja, er konnte sich sogar mit geschlossenen Augen so lange drehen, bis er die Orientierung verlor, und sich trotzdem auf einen Riss in der Mauer oder einen seltsam geformten Stein konzentrieren, direkt darauf zugehen, die Hand ausstrecken und die Mauer im Umkreis von wenigen Zentimetern von der betreffenden Stelle berühren. Bis zu einem gewissen Grad funktionierte der Proximitätssinn also auch bei toten Gegenständen. Während er dies ausprobierte, spürte er, dass ein Strom menschlicher Konzentration
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