Shibumi: Thriller (German Edition)
räusperte sich abermals. Das Sprechen fiel ihm so schwer! »Ich habe nichts, womit ich mich geistig beschäftigen kann. Und ich glaube, ich werde wahnsinnig.«
»Und?«
»Ich habe häufig Selbstmordgedanken.«
»Ach!« Herr Hirata runzelte die Stirn und sog den Atem ein. Warum mussten nur immer solche Probleme auftauchen? Probleme, für die es keine eindeutigen Richtlinien in der Dienstvorschrift gab. »Ich werde Ihren Antrag weiterleiten, Herr Heru.«
Seinem Ton entnahm Nikolai, dass der Bericht ohne Nachdruck abgefasst werden und sein Antrag im bodenlosen Morast der Bürokratie versinken würde. Er hatte bemerkt, dass Herrn Hiratas Blick immer wieder auf sein zerschlagenes Gesicht fiel, dessen Narben und Schwellungen noch dunkelrot waren, und dass er den Blick jedes Mal voll Unbehagen abwandte. Nikolai legte die Finger auf seine geplatzte Braue. »Das waren nicht Ihre Wärter, Sir. Die meisten Verletzungen stammen von den Verhören durch die Amerikaner.«
»Die meisten ? Und die übrigen?«
Nikolai blickte zu Boden und räusperte sich. Seine Stimme war heiser und schwach, dabei musste er jetzt unbedingt flüssig und überzeugend sprechen! Er nahm sich vor, seine Stimme nie wieder so einrosten zu lassen. »Ja, die meisten. Die übrigen … Ich muss gestehen, dass ich mir einige selbst zugefügt habe. In der Verzweiflung bin ich mit dem Kopf gegen die Wand gerannt. Das war dumm und unwürdig, doch da ich nichts habe, womit ich mich geistig beschäftigen kann …« Er brach ab und hielt den Blick gesenkt.
Herr Hirata erwog beunruhigt die Auswirkungen von Wahnsinn und Selbstmord eines Häftlings auf seine Karriere, vor allem jetzt, da er in wenigen Jahren pensioniert werden sollte. Er versprach zu tun, was in seinen Kräften stand, und verließ dann die Zelle, gequält von jener schlimmsten aller Torturen für einen Beamten: der Notwendigkeit, eine selbstständige Entscheidung zu treffen.
Als Nikolai zwei Tage darauf von seinem zwanzigminütigen Hofgang zurückkehrte, fand er am Fuß seiner Eisenpritsche ein in Papier gewickeltes Paket, das drei alte, verschimmelt riechende Bücher, einen Block mit fünfzig Blatt Schreibpapier, eine Flasche amerikanische Tinte und einen billigen, aber nagelneuen Füllfederhalter enthielt.
Kaum jedoch schlug er die Bücher auf, da ließ er sie niedergeschmettert wieder sinken. Sie waren nutzlos. Herr Hirata war zu einer antiquarischen Buchhandlung gegangen und hatte die drei billigsten Bücher gekauft, die er finden konnte (und zwar von seinem eigenen Geld, um das verwaltungstechnische Problem zu umgehen, einen formellen Antrag für Gegenstände stellen zu müssen, die möglicherweise verboten waren). Da er keine Fremdsprache beherrschte und aus Hels Akten wusste, dass er Französisch las, hatte Herr Hirata Bücher gekauft, die einst zur Bibliothek eines Missionspriesters gehört hatten und während des Krieges von der Regierung beschlagnahmt worden waren, Bücher, die er für französische hielt. Nun war dieser Priester allerdings Baske gewesen, und so waren die Bücher überwiegend auf Baskisch. Allesamt vor 1920 gedruckt, enthielt eines eine für Kinder verfasste Schilderung baskischer Lebensweise, bebildert mit steifen, retuschierten Fotos und Zeichnungen von ländlichen Szenen. Obwohl das Buch auf Französisch abgefasst war, besaß es für Nikolai keinen Wert. Das zweite Buch war ein schmales Bändchen baskischer dictons, Parabeln und Volkserzählungen, links auf Baskisch, rechts auf Französisch. Das dritte war ein französisch-baskisches Wörterbuch, zusammengestellt im Jahre 1889 von einem Priester aus Haute-Soule, der in einer geschwollenen und endlos langen Einleitung versuchte, das Studium der baskischen Sprache mit den Tugenden der Frömmigkeit und Demut gleichzusetzen.
Entmutigt warf Nikolai die Bücher hin und hockte sich in die Ecke der Zelle, die er für seine Meditationen reserviert hatte. Da er so dumm gewesen war, auf etwas zu hoffen, bezahlte er jetzt dafür in der Münze der Enttäuschung. Er weinte bitterlich, und bald schon entrang sich ihm unwillkürlich ein wahrhaft herzzerreißendes Schluchzen. Er wechselte in die Toilettenecke hinüber, damit die Wärter seinen Zusammenbruch nicht mitansehen konnten. Erstaunt und erschrocken entdeckte er, wie dicht unter der Oberfläche diese furchtbare Verzweiflung schlummerte, und das, obwohl er sich dazu erzogen hatte, nach einer starren Routine zu leben und jeden Gedanken an Vergangenheit und Zukunft zu meiden.
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