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Shibumi: Thriller (German Edition)

Shibumi: Thriller (German Edition)

Titel: Shibumi: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Trevanian
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auf ihn gerichtet war, und er wusste sofort, obwohl er durch das den Himmel spiegelnde Glas der Wachtürme nicht hindurchsehen konnte, dass er von den Männern dort oben beobachtet wurde und dass sie sein Verhalten diskutierten. Er unterschied die verschiedenen Impulse der aufgefangenen Konzentration und konnte daraus ablesen, dass es zwei Männer waren: ein willensstarker und ein labilerer – oder vielleicht einer, den die Kapriolen eines halb verrückten Gefangenen nicht interessierten.
    In seine Zelle zurückgekehrt, dachte er weiter über seine Gabe nach. Seit wann besaß er sie? Woher kam sie? Wo lagen ihre potenziellen Möglichkeiten? Soweit er sich anfangs zu erinnern meinte, hatte sie sich erst während dieses letzten Gefängnisjahres entwickelt. Und zwar so langsam, dass er nicht zu sagen vermochte, wann es damit eigentlich angefangen hatte. Seit einiger Zeit wusste er nun schon, ohne darüber nachzudenken, wann sich die Wärter seiner Zelle näherten und ob es der Kleine mit den glasigen Augen war oder der, der wie ein Polynesier aussah und wahrscheinlich Ainu-Blut in den Adern hatte. Und stets wusste er beinahe sofort nach dem Aufwachen, welcher Kalfaktor ihm das Frühstück bringen würde.
    Aber hatte es nicht schon vor dem Gefängnis Spuren von dieser Gabe gegeben? Ja. Aber natürlich! Allmählich dämmerte es ihm. Er hatte schon immer schwache, rudimentäre Signale von seinem Proximitätssystem empfangen. Sogar als Kind hatte er jedes Mal, wenn er ein Haus betrat, sofort gespürt, ob es leer war oder ob sich jemand darin aufhielt. Und auch, wenn sie nichts sagte, hatte er stets gewusst, ob seine Mutter eine Pflicht oder Aufgabe ihm gegenüber erfüllt oder vergessen hatte. Wenn er in ein Zimmer kam, spürte er die verebbende Aufladung der Luft durch eine kürzlich stattgefundene Auseinandersetzung oder durch einen Liebesakt. Aber er hatte immer geglaubt, das seien Wahrnehmungen, die jeder Mensch habe. Bis zu einem gewissen Grad hatte er damit auch Recht. Viele Kinder – und einige Erwachsene – nehmen gelegentlich durch die Rudimente ihres Proximitätssystems solche unmerklichen Vibrationen wahr, obwohl man sie meist mit Erklärungen wie »Launen«, »Reizbarkeit« oder »Intuition« abtut.
    Das einzig Ungewöhnliche an Nikolais Kontakt mit seinem Proximitätssystem war dessen Beständigkeit. Er war immer für seine Botschaften empfänglich gewesen.
    Zum ersten Mal deutlich bemerkbar gemacht hatte sich diese Gabe der außersinnlichen Wahrnehmung während der Höhlenforschungsexpeditionen mit seinen japanischen Freunden, obwohl er ihr zu jener Zeit weder längeres Nachdenken gewidmet noch ihr einen Namen gegeben hatte. Unter den besonderen Bedingungen der absoluten Dunkelheit, der konzentrierten, im Hintergrund lauernden Angst und der extremen körperlichen Anstrengung schalteten sich Nikolais primitive Naturkräfte des zentralen Cortex in sein Wahrnehmungssystem ein. Steckte er mit Kameraden tief unten in einem unbekannten Labyrinth, wo er sich, Millionen Tonnen Fels nur wenige Zentimeter über seinem Rücken, eine Verwerfung entlangschob, während die Anstrengung in seinen Schläfen pochte, brauchte er nur die Augen zu schließen (um den mächtigen Impuls seines Wahrnehmungssystems zu überwinden, sogar in absoluter Finsternis Energie durch die Augen zu verströmen), und schon konnte er seinen Proximitätssinn vorausschicken und mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, in welcher Richtung freier Raum und in welcher undurchdringlicher Fels zu finden war. Zuerst rissen die Freunde Witze über seine »Ahnungen«. Eines Abends, als sie am Eingang zu einem tagsüber erforschten Höhlensystem im Biwak saßen, wandte sich die träge Unterhaltung Nikolais unheimlichem Orientierungssinn zu. Ein junger Mann vertrat die Ansicht, Nikolai interpretiere feine Echos seines Atems und des Knackens seiner Gelenke, wittere möglicherweise auch Geruchsunterschiede der Luft unter der Erde und komme durch diese kaum wahrnehmbaren, aber ganz sicher nicht mystischen Signale zu seinen berühmten »Ahnungen«. Nikolai akzeptierte diese Erklärung bereitwillig; es war ihm egal.
    Einer aus seiner Gruppe, der Englisch lernte, um bei der Besatzungsmacht einen besseren Job zu bekommen, schlug Nikolai kräftig auf die Schulter und knurrte: »Gekonnt, wie ihr Okzidentalen euch orientiert! «
    Und ein anderer, ein magerer Junge mit einem Affengesicht, der Clown des Teams, behauptete, es sei überhaupt nicht erstaunlich, dass Nikolai

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