Shimmer
Mitternacht wird er dann hier sein.«
»Wir bleiben, bis er wieder da ist«, erklärte David.
»Nein, das werdet ihr nicht«, widersprach Grace, denn sie wusste, dass David sich nicht gut fühlte, und Saul musste bis morgen einen Stuhl fertig getischlert haben. Außerdem war Grace unendlich erleichtert, dass Sam und Claudia zwar erschöpft, aber unverletzt waren. »Ihr habt ja die Streifenwagen gesehen. Ich bin in Sicherheit, und um ehrlich zu sein, bin ich auch hundemüde.«
»Deshalb sage ich ja, wir sollten uns etwas zu essen bestellen«, sagte Saul.
»Also gut«, gab Grace nach. »Aber dann geht ihr nach Hause.« Sie legte die Hand auf Davids von Falten zerfurchte Stirn. »Du bist zu warm.«
»Es ist Juni in Miami«, entgegnete David. »Da ist mir immer zu warm.«
»Hier drin ist es kühl«, sagte Grace. »Saul, sprich du mit deinem Vater.«
»Das nützt nichts«, erwiderte Saul. »Das weißt du doch.«
»Was wollt ihr essen?«, fragte David.
»Such du aus.« Grace holte ihre Speisekartensammlung hinter dem Toaster hervor.
»Ich bin nicht besonders hungrig«, sagte David und wechselte das Thema: »Fliegt Claudia jetzt nach Hause?«
»Sobald Frank versorgt ist, nehme ich an.«
»Kommt er denn allein zurecht?«, fragte Saul.
»Ich weiß nicht«, antwortete Grace.
Erneut wartete sie darauf, dass sich irgendetwas in ihr rührte, ein Schuldgefühl vielleicht, das ihr sagte, sie müsse nach Chicago fliegen und sich um ihren alten, kranken Vater kümmern.
Doch da war immer noch nichts.
69
Dank des Sheriffs hatte Sam keinerlei Probleme in O’Hare, obwohl er viel zu spät zum Einchecken kam.
Ohne auch nur einen Blick an die Läden links und rechts zu verschwenden, eilte er durch Terminal Drei. Er blieb nur kurz stehen, um sich einen Becher schwarzen Tee zu kaufen, mit dem er ein paar Tylenol schluckte. Dann ging er durch die Sicherheitsschleuse und auf direktem Weg zum Gate. Dabei telefonierte er noch einmal mit zu Hause.
»Ich kann es gar nicht erwarten, dich wiederzusehen«, sagte er zu Grace. »Küss Joshua von mir.«
»Und was ist mit seiner Mama?«
»Die bekommt eine andere Art von Kuss«, erwiderte Sam. »Ich liebe dich, Gracie.«
Seine Mitpassagiere waren fast alle schon an Bord, doch Sam rief erst noch mal Martinez an. »Hast du Mildred gefunden?«
»Kaum zu glauben, aber sie war aus, essen«, antwortete Martinez. »Sie hat mir eine SMS geschickt, nachdem ich sie angerufen habe. Ich werde sie gleich selbst abholen.«
Erst als Sam im Flugzeug saß, wurde ihm bewusst, wie fertig er wirklich war. Sein Kopf schmerzte von dem Schlag, den Roxanne Lucca ihm mit der Lampe verpasst hatte – Fingerabdrücke hatten sie übrigens keine gefunden, doch das war auch nicht überraschend –, und die tiefen Schnittwunden auf der Brust würden ihn vermutlich noch länger an das Geschehene erinnern.
»Wir haben Glück heute Abend«, sagte einer der Flugbegleiter, ein junger Mann namens Azam, während sie auf die Starterlaubnis warteten. »Vor ein paar Stunden gab es technische Probleme; deshalb sind wir jetzt auf eine 767 gewechselt.«
Wäre Sam nicht so erschöpft gewesen – er hätte längst bemerkt, dass sein Sitz deutlich komfortabler war als der auf dem Hinflug. Doch als der große Jet auf die Startbahn rollte, beschäftigte nur eines Sams müden Verstand: das Böse, von dem er glaubte, dass die Mutter es ihrem Sohn vererbt hatte. Roxanne war noch nicht gefasst, doch das würde früher oder später geschehen. Sam hatte genug Vertrauen in das System, um sich dessen sicher zu sein. Dann würde man sie der Freiheitsberaubung, der gefährlichen Körperverletzung und vermutlich noch diverser anderer Delikte anklagen.
Was Jerome Cooper betraf, musste man mit Sicherheit auch Mitleid mit ihm haben. Schließlich war auch er ein Opfer Roxannes, obwohl er ihr grausames Erbe in bis dato unbekannte, monströse Höhen geführt hatte.
Doch bis jetzt gab es dafür nur Indizien.
Poster an einer Schlafzimmerwand und ein zweiter Vorname, der von einer David-Bowie-Figur stammte. Und das war noch nicht einmal dieselbe Figur wie die, deren Erscheinungsbild Mildred Bleekers Silberengel zu entsprechen schien .
Und dann waren da die Wunden auf Sams Brust und der von Frank Lucca. Wunden, die denen der beiden Männer in Florida ähnelten, nur dass Sams und Franks Wunden von der Mutter in Illinois stammten, nicht vom Sohn.
Und der Gestank von Bleichmitteln.
Hätte Sam nicht gewusst, dass Jerome einen Tag vor dem Fund
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