Shining Girls (German Edition)
großen Schritten zu ihr kommt und sie nach hinten beugt. Und bevor er ihr in einem atemberaubenden Kuss seine Lippen auf den Mund drückt, sagt er: «Ich habe dir ja gesagt, dass ich zu dir zurückkomme.»
Oder er beugt sich salopp über den Ladentisch im Kosmetikladen, während sie einer Dame aus der besseren Gesellschaft, die mehr Geld für einen Lippenstift ausgibt, als Alice im Monat verdient, ein wenig Rouge aufträgt. Und dann sagt er: «Entschuldigen Sie, Miss, ich habe überall nach meiner großen Liebe gesucht. Können Sie mir weiterhelfen?» Er streckt seine Hand nach ihr aus, und sie klettert über den Ladentisch, vorbei an der missbilligenden Dame. Er wirbelt sie in seinen Armen herum und stellt sie dann wieder auf die Füße, sieht sie beglückt an, und dann rennen sie lachend und Hand in Hand durch das Kaufhaus, und der Wachmann sagt: «Aber Alice, deine Schicht ist noch nicht zu Ende!», und sie nimmt ihr goldfarbenes Namensschildchen ab, wirft es ihm vor die Füße und sagt: «Charlie, ich kündige!»
Oder er kommt ins Schreibzimmer und sagt: «Ich brauche ein Mädchen! Und dieses Mädchen ist Alice.»
Oder er nimmt sie an den Händen und zieht sie sanft vom Fußboden des Restaurants hoch, den sie auf den Knien geschrubbt hat, wie Aschenputtel (auch wenn sie einen Mopp benutzt), und sagt schrecklich zärtlich: «Das musst du jetzt nicht mehr tun.»
Sie hat nicht damit gerechnet, dass er kommt, wenn sie zur Arbeit trampt. Sie würde am liebsten heulen vor Erleichterung. Aber auch vor Enttäuschung, weil sie in diesem Moment so furchtbar unglamourös aussieht. Sie hat sich ein Tuch um den Kopf gebunden, um zu verbergen, dass ihr Haar ungewaschen und schlaff herunterhängt. Ihre Zehen sind eiskalt in den Stiefeln. Ihre Hände sind rissig, ihre Fingernägel abgekaut. Sie ist kaum geschminkt. Einen Job zu haben, bei dem man den ganzen Tag telefoniert, bedeutet, dass es nur auf die Stimme ankommt. «
Sears
-Verkauf, was möchten Sie bestellen?»
Einmal hatte sie einen Farmer am Apparat, der anrief, um einen neuen Tachometer für seinen John-Deere-Traktor zu bestellen, und das Telefonat mit einem Heiratsantrag beendete. «Mit dieser Stimme im Ohr könnte ich jeden Morgen aufwachen», verkündete er. Dann hatte er sich mit ihr verabreden wollen, wenn er das nächste Mal in der Stadt wäre, aber sie hatte ihn nur ausgelacht. «Sie täuschen sich in mir», hatte sie gesagt.
Alice hat schon schlimme Begegnungen mit Männern erlebt, die von ihr erwartet haben, entweder mehr oder weniger als das zu sein, was sie ist. Einige gute Begegnungen waren auch dabei, aber da wussten die Männer meistens vorher, auf was sie sich einließen, und es war meist nicht mehr daraus geworden als kurze, heftige Umklammerungen. Sie aber möchte «A Sunday Kind of Love», wie es in dem Song heißt. Eine Liebe, die nach den gingeschwängerten Küssen der Samstagnacht weiterbesteht. Ihre längste Beziehung hat zehn Monate gedauert, und danach hat er ihr wieder das Herz gebrochen, weil er zurückgekommen ist. Alice will mehr. Sie will alles. Sie spart, um nach San Francisco zu gehen, wo es für Frauen wie sie angeblich einfacher ist.
«Wo
warst
du denn so lange?» Sie kann nichts dagegen machen. Sie hasst die Gereiztheit in ihrer Stimme. Aber es waren mehr als zehn Jahre, die sie gewartet und gehofft und sich selbst beschimpft hat, weil sie ihre Träume an einen Mann hängt, der sie nur ein einziges Mal bei einem Jahrmarkt geküsst hat und dann verschwunden ist.
Er lächelt kläglich. «Es gab ein paar Dinge, die ich tun musste. Jetzt erscheinen sie mir auf einmal nicht mehr so wichtig.» Er hängt sich bei ihr ein und dreht sie Richtung See. «Komm mit», sagt er.
«Wohin gehen wir?»
«Zu einer Party.»
«Ich bin nicht für eine Party angezogen.» Sie bleibt stehen und jammert: «Ich sehe aus wie eine Vogelscheuche!»
«Es ist ganz intim. Nur wir zwei. Und du siehst wundervoll aus.»
«Du auch», sagt sie errötend und lässt sich von ihm Richtung Lake Michigan führen. Sie weiß mit absoluter Sicherheit, dass es ihm nicht darauf ankommt. Das hat sie an seinem Blick gesehen, mit dem er vor all den Jahren zu ihr zurückgeschaut hat. Und es liegt immer noch in seinen Augen: helle Begierde und Akzeptanz.
Harper
1 . Dezember 1951
Sie schweben ins Foyer des Congress Hotels, vorbei an den nicht funktionierenden Rolltreppen, die abgedeckt wurden wie Tote mit einem Leichentuch. Niemand widmet dem Paar einen zweiten
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