Shining Girls (German Edition)
hatte, dem nicht der bittere Formaldehyd-Nachgeschmack von Selbstgebranntem folgte. Es ist lange her, seit er auf einer gepolsterten Sitzgelegenheit gesessen hat.
Er widersteht dem verlockenden Sessel, obwohl sein Bein vom Laufen schmerzt. Ganz gleich, welches Fieber ihn vorangetrieben hat, es brennt noch immer.
Da ist noch mehr, hier entlang, Sir
, wie ein Jahrmarktschreier.
Hereinspaziert, lassen Sie sich nichts entgehen. Geh weiter, geh weiter, Harper Curtis.
Harper zieht sich die Treppe hinauf, hängt sich ans Geländer, das so glänzend poliert ist, dass er Fingerabdrücke auf dem Holz hinterlässt. Fettige Geisterschatten – die schon wieder verblassen. Er muss bei jedem Schritt den Fuß im Halbkreis hochschwingen, die Krücke schleppt er hinter sich her. Vor Anstrengung zieht er keuchend den Atem zwischen den Zähnen ein.
Er hinkt durch den Flur, vorbei an einem Badezimmer mit einem Waschbecken, das mit Blutrinnsalen befleckt ist, die zu dem triefend nassen Handtuchknäuel auf dem Boden passen, von dem es rosa über die glänzenden schwarz-weißen Bodenfliesen läuft. Harper achtet nicht weiter darauf, ebenso wenig wie auf die Treppe, die vom Flur aus zum Speicher hinaufführt, oder auf das Gästezimmer mit dem säuberlich gemachten Bett, dessen Kopfkissen aber eingedrückt ist.
Die Tür zum Schlafzimmer ist zu. Ein wandernder Lichtstreifen fällt durch den Spalt zwischen Boden und Tür auf die Flurdielen. Er greift nach dem Türknauf, rechnet damit, dass abgeschlossen ist. Doch der Knauf dreht sich mit einem Klicken, und er drückt die Tür vorsichtig mit der Spitze seiner Krücke auf. Sie öffnet sich in einen Raum, der unerklärlicherweise in das blendende Licht eines Sommernachmittags getaucht ist. Die Einrichtung ist spärlich. Ein Schrank aus Walnussholz, ein schmiedeeisernes Bett.
Er kneift gegen die plötzliche Helligkeit von draußen die Augen zu und beobachtet, wie sie sich in dicke, wirbelnde Wolken und silbrige Regenschwaden verwandelt, dann in einen rot gestreiften Sonnenuntergang, wie bei einem billigen Zoetrop, der kreisenden Bildertrommel. Doch statt eines galoppierenden Pferdes oder eines Mädchens, das lasziv die Strümpfe auszieht, wirbeln ganze Jahreszeiten an ihm vorbei. Er geht zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen, doch vorher späht er noch kurz auf den Ausblick.
Die Häuser gegenüber
verändern
sich. Der Anstrich verschwindet, färbt sich neu, verschwindet wieder durch Schnee und Sonne, und mit Laub vermischter Abfall wird die Straße hinuntergeweht. Fenster sind zersplittert, zugenagelt, mit einer Vase voller Blumen geschmückt, die braun werden und abfallen. Dann wuchert alles zu, wird mit Zement überdeckt, Gras wächst in wilden Büscheln durch die Spalten, Gerümpel erstarrt, das Gerümpel ist verschwunden, es kommt wieder, zusammen mit aggressiver, wirrer Schrift in schrillen Farben auf den Wänden. Ein Himmel-und-Hölle-Hüpfgitter taucht auf, verschwindet hinter Schneeregen, rückt an eine andere Stelle, schiebt sich über den Zement. Eine Couch verrottet im Lauf der Jahreszeiten, dann fängt sie Feuer.
Er zerrt die Vorhänge zusammen, dreht sich um und sieht es. Endlich. Sein Schicksal ist ihm in diesem Zimmer vorbestimmt.
Jede Oberfläche ist verunstaltet worden. An die Wände wurden Gegenstände gehängt, genagelt oder mit Draht gespannt. Sie scheinen auf eine Art zu zittern, die er bis in die Zahnwurzeln spürt. Alles wird durch Linien verbunden, die wieder und wieder gezogen wurden, entweder mit Kreide oder Tinte oder einer Messerspitze, die über die Tapete geratscht ist.
Konstellationen
, sagt die Stimme in seinem Kopf.
Daneben sind Namen gekritzelt. Jin-Sook. Zora. Willie. Kirby. Margot. Julia. Catherine. Alice. Mysha. Fremde Namen von Frauen, die er nicht kennt.
Bloß dass die Namen in Harpers eigener Handschrift geschrieben wurden.
Das genügt. Die Erkenntnis. Als würde sich eine Tür in ihm öffnen. Das Fieber kommt zum Höhepunkt, und etwas heult in ihm auf, voll Verachtung und Wut und Feuer. Er sieht die Gesichter der Shining Girls und wie sie sterben müssen. Es schreit in seinem Kopf:
Bring sie um. Halt sie auf
.
Er schlägt die Hände vors Gesicht, lässt die Krücke fallen. Er schwankt rückwärts und kippt schwer auf das Bett, das unter seinem Gewicht ächzt. Sein Mund ist trocken. Seine Gedanken sind voller Blut. Er spürt, wie die Gegenstände trommeln. Er hört die Namen der Mädchen wie den Refrain eines Kirchenlieds. Der Druck in seinem
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