Shining Girls (German Edition)
Kopf steigt bis zur Unerträglichkeit an.
Harper nimmt die Hände vom Gesicht und zwingt sich, die Augen zu öffnen. Er zieht sich auf die Füße, hält sich am Bettpfosten im Gleichgewicht und humpelt zur Wand hinüber, an der die Gegenstände beinahe erwartungsvoll pulsieren und zucken. Er lässt sich von ihnen führen, hebt seine Hand. Da ist einer, der irgendwie klarer wirkt als die anderen. Er setzt ihm zu, er bedrängt ihn, wie einen eine Erektion bedrängt, mit unumkehrbarer Zielgerichtetheit. Er muss den Gegenstand finden. Und das Mädchen, das dazugehört.
Es ist, als hätte er sein gesamtes Leben in betrunkener Verschwommenheit verbracht, doch nun ist der Schleier weggewischt worden. Es ist ein Moment vollkommener Klarheit, wie beim Vögeln oder dem Augenblick, in dem er Jimmy Grebe die Kehle durchgeschnitten hat.
Es ist wie ein Tanz in bestrahlter Farbe.
Er nimmt das Kreidestück, das auf dem Kaminsims liegt, und schreibt auf die Tapete neben dem Fenster, weil dort Platz dafür ist und es so wirkt, als müsse er es tun. Er schreibt in den Druckbuchstaben seiner winkeligen, steilen Schrift «Glowgirl» über den Geist des Wortes, das schon dort steht.
Kirby
30 . Juli 1984
Sie könnte schlafen. Auf den ersten Blick. Wenn man die Augen im Sonnenlicht zusammenkniff, das scheckig zwischen dem Blattwerk hindurchfiel. Wenn man dachte, ihr Oberteil wäre rostbraun. Wenn man die Fliegen übersah, die überall herumwimmelten.
Ein Arm ist lässig über ihren Kopf gelegt, der bezaubernd zur Seite geneigt ist, als würde sie jemandem zuhören. Ihre Hüfte ist auf dieselbe Seite gedreht, ihre Beine liegen aneinander, die Knie gebeugt. Die harmonische Pose straft die gähnende Verwüstung ihres Unterbauchs Lügen.
Der sorglose Arm, der sie so romantisch wirken lässt, wie sie dort zwischen den winzigen blauen und gelben Wildblumen liegt, ist voller Wunden, die davon sprechen, wie sie sich verteidigt hat. Die Einschnitte in den mittleren Fingergliedern, die bis auf den Knochen reichen, weisen darauf hin, dass sie wohl versucht hat, ihrem Angreifer das Messer zu entreißen. Ringfinger und kleiner Finger ihrer rechten Hand sind fast ganz abgetrennt.
Die Haut auf ihrer Stirn ist unter dem Aufprall vieler Schläge mit einem stumpfen Gegenstand aufgeplatzt, möglicherweise war es ein Baseballschläger. Doch genauso gut könnte es der Schaft einer Axt oder sogar ein schwerer Ast gewesen sein. Keines dieser Objekte ist am Tatort gefunden worden.
Die aufgescheuerten Stellen an ihren Handgelenken lassen darauf schließen, dass sie gefesselt war, auch wenn die Fesseln abgenommen worden sind. Draht wahrscheinlich, nach der Art, wie sich die Fesseln in ihre Haut gegraben haben. Blut hat eine schwarze Kruste über ihr Gesicht gezogen wie Eihaut. Sie ist vom Brustbein bis zum Becken in einem umgekehrten Kreuz aufgeschlitzt worden, was gewisse Polizeikreise zunächst einen satanistischen Hintergrund vermuten lässt, bevor sie von einer Gruppenvergewaltigung ausgehen, besonders, weil ihr Magen entfernt wurde. Er wird in der Nähe gefunden, zerlegt, der Inhalt über die Wiese verteilt. Ihre Därme sind wie Lametta an die Bäume gehängt worden. Sie sind schon trocken und grau, als die Cops endlich das Areal absperren. Das weist darauf hin, dass der Mörder Zeit hatte. Dass niemand ihre Hilferufe gehört hat. Oder dass niemand darauf reagiert hat.
Ebenfalls als Beweismittel aufgenommen:
Ein weißer Turnschuh mit einem langen Schmutzstreifen an einer Seite, als wäre sie beim Weglaufen im Schlamm ausgerutscht und hätte ihn verloren. Er wurde dreißig Fuß von der Leiche entfernt gefunden. Er passt zu dem anderen, den sie trug und der mit Blut bespritzt ist.
Ein Rüschenunterhemd mit Spaghettiträgern in der Mitte aufgeschlitzt, ursprünglich weiß. Ausgewaschene Jeans-Shorts mit Blutflecken. Außerdem: Urin, Fäkalien.
Ihre Büchertasche enthält: ein Lehrbuch
(Grundlagen der Wirtschaftsmathematik)
, drei Stifte (zwei blau, einer rot), einen Textmarker (gelb), einen
Lip-Smacker
-Pflegestift mit Traubengeschmack, Wimperntusche, ein halbes Päckchen Kaugummi (
Wrigleys Spearmint
, noch drei Streifen übrig), eine quadratische goldene Puderdose (Spiegel gesprungen, möglicherweise während des Angriffs), eine schwarze Kassette,
Janis Joplin – Pearl
handschriftlich auf das Etikett geschrieben, die Schlüssel zur Eingangstür der Studentinnenverbindung Alpha Phi, ein Schulkalender mit Eintragungen von Abgabeterminen, einem
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