Shining Girls (German Edition)
Touristenschiffs, das unter ihr vorbeifährt. Eine blecherne Megaphonstimme weist auf die Maiskolben-Zwillingshochhäuser der Marina City hin.
Noch mehr Touristen sind auf der Uferpromenade unterwegs, man erkennt sie an ihren Schlabbersonnenhüten und Shorts genauso wie an den Fotoapparaten, die um ihren Hals hängen. Ein Büroangestellter sitzt mit hochgeschobenen Anzugärmeln auf dem roten Trägerbalken beim Geländer, isst ein Sandwich und hebt den Fuß drohend in Richtung einer Möwe, die neugierig zu ihm trippelt. Leute überqueren zum Piepsignal der Ampel in dichtgedrängten Mengen die Straße und zerstreuen sich, sobald sie den Zebrastreifen hinter sich haben. Dadurch wird es noch schwieriger, eine einzelne Person zu entdecken. Sie lässt ihren Blick über Menschen wandern, kategorisiert sie nach Hautfarbe und Geschlecht und Statur. Schwarzer Typ. Frau. Frau. Fetter Typ. Mann mit Kopfhörer. Typ mit langen Haaren. Typ im Anzug. Typ im braunen Hemd. Wieder Anzug. Geht wohl auf die Mittagspause zu. Braune Lederjacke. Schwarzes Hemd. Blauer Overall. Grüne Streifen. Schwarzes T-Shirt. Schwarzes T-Shirt. Rollstuhl. Anzug. Keiner von ihnen ist es. Er ist verschwunden.
«Fuuuuuuck!», brüllt sie in den Himmel hinauf und erschreckt den Typen mit dem Sandwich. Die Möwe hebt sich in die Luft, kreischt ihr eine Ermahnung zu.
Der 124 er Bus fährt an ihr vorbei und nimmt ihr die Sicht. Es ist, als würde in ihrem Gehirn die Neustart-Taste gedrückt. Eine Sekunde später sieht sie ihn. Die unregelmäßige Bewegung einer Baseballmütze unten am Fluss, die Mütze schlingert etwas, als würde der Mann hinken. Sie ist schon wieder losgerannt. Sie hört Dan nicht rufen.
Ein braun-weißes Taxi weicht ihr mit einem Schlenker aus, als sie – ohne nach rechts oder links zu schauen – über den Wacker Drive flitzt. Der Fahrer bleibt mitten auf der Kreuzung stehen, die Hand noch auf der Hupe, mit der anderen kurbelt er das Fenster herunter, um sie zu beschimpfen. In beiden Richtungen fängt ein wütendes Hupkonzert an.
«Sind Sie verrückt geworden? Beinahe hätte er Sie totgefahren», zetert eine Frau, packt sie am Arm und zieht sie von der Straße.
«Lassen Sie mich los!» Kirby schiebt sie weg. Sie drängt sich zwischen den Mittagspauseneinkäufern durch, versucht, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, rennt an einem Paar mit einem Kinderwagen vorbei in den Schatten der Hochbahn. Die plötzliche Dunkelheit trifft sie wie ein Schlag. Ihre Augen gewöhnen sich nicht sofort an den Lichtwechsel, und in diesem Sekundenbruchteil verliert sie ihn.
Verzweifelt sieht sie sich um, lässt ihren Blick über die Menge schweifen und sortiert Menschen aus. Und dann zieht das auffällige rote McDonald’s-Schild ihre Aufmerksamkeit an, und sie schaut nach oben, zu der gesperrten Treppe Richtung Lake-Street-Station auf der anderen Seite. Sie sieht nur noch seine Jeans verschwinden, aber sein Hinken ist auf der Treppe noch stärker.
«Hey!», ruft sie, aber ihre Stimme geht im Zuglärm unter. Eine Bahn fährt über ihr ein. Sie sprintet hinüber und die Treppe hinauf, sucht in ihrer Tasche nach einem Fahrschein. Dann springt sie über die Drehsperre, hastet eine weitere Treppe zum Bahnsteig hinauf und schiebt sich zwischen den sich gerade schließenden Türen in den Zug, ohne überhaupt mitzubekommen, welche Linie es ist.
Sie ist außer Atem. Sie starrt auf ihre Stiefel, wagt nicht, den Blick zu heben, weil er ja direkt vor ihr stehen könnte. Jetzt mach schon, denkt sie und ist wütend auf sich selbst. Mach schon. Sie hebt herausfordernd den Kopf und lässt ihren Blick durch den Waggon schweifen. Die anderen Fahrgäste ignorieren sie lieber, sogar diejenigen, die sie angestarrt haben, als sie sich zwischen den Türen hereingequetscht hat. Ein kleiner Junge in einer Tarn-Trainingsjacke funkelt sie mit all der Selbstgerechtigkeit eines Kindes an. Nachwuchs- GI , denkt sie und muss vor Erleichterung oder Schock beinahe lachen.
Er
ist nicht hier. Vielleicht hat sie sich getäuscht. Oder er ist in den Zug eingestiegen, der in die Gegenrichtung fährt. Ihre Adrenalinkurve befindet sich im freien Fall. Sie geht durch den Waggon auf die Verbindungstür zum nächsten Wagen zu, kann sich gerade noch fangen, als sich der Zug in eine Kurve legt. Die Plexiglasscheibe ist zerschrammt, nicht mal mit Graffiti beschmiert, aber die Oberfläche ist mit Kratzern übersät, die während Hunderter Fahrten von irgendwelchen Leuten ergänzt wurden, die
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