Shining Girls (German Edition)
kein Gift.»
Gegen den Rat der Ärzte, die ihr erklärten, das Radium habe ihr Blut und ihre Knochen erreicht und sie könnte sogar ein Bein verlieren, erklärte die kleine Provokateurin, die in den Folies Bergère in Paris aufgetreten ist und (mit etwas mehr Stoff am Leib) in der Windmill in London, bevor sie Amerika im Sturm eroberte, sie würde «weitertansen, bis su dem Tag, an dem isch sterbe».
Ihre Worte erwiesen sich als grausam prophetisch. Das Glow Girl hatte am Samstag seinen letzten Auftritt bei Kansas Joe’s hinter sich und kam für eine Zugabe nochmals auf die Bühne. Das Letzte, was von der unglücklichen jungen Frau gesehen wurde, war ihr gewohnter Abschiedskuss für Ben Staples, den Türsteher des Clubs, der die Hintertür vor allzu enthusiastischen Fans bewachte.
Ihre Leiche wurde in den frühen Morgenstunden des Sonntags von einer Fabrikarbeiterin, Tammy Hirst, auf dem Heimweg von der Nachtschicht gefunden. Sie sagte aus, dass ein seltsames Leuchten in der Gasse sie angezogen habe. Beim Anblick der verstümmelten Leiche der jungen Tänzerin, die unter ihrem Mantel immer noch die Farbe auf der Haut hatte, floh Miss Hirst zur nächsten Polizeiwache, wo sie unter Tränen den Fundort der Leiche beschrieb.
An diesem Abend in der Bar gab es viele Zeugen, die ihn gesehen hatten. Aber Harper wundert sich nicht über die Unzuverlässigkeit der Leute. Es waren größtenteils High-Society-Vertreter, die sich für einen Abend unters gemeine Volk mischten. Ihren Bodyguard spielte ein gelangweilter Cop, der dienstfrei hatte und sich nebenbei ein bisschen was dazuverdiente, indem er ihnen die Sehenswürdigkeiten zeigte und sie einen Hauch der sündigen Welt im Schwarzenviertel spüren ließ. Schon seltsam, dass es so etwas nicht in die Zeitungen schaffte.
Es war einfach für Harper, in dieser Menge nicht aufzufallen, aber er ließ die Krücke trotzdem draußen. Er hatte festgestellt, dass sie eine gute Requisite war, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Der Blick der Leute glitt immer davon weg. Sie unterschätzten ihn. Aber in der Bar wäre die Krücke ein Detail gewesen, an das man sich später erinnerte.
Er blieb hinten stehen und nippte an dem, was während der Prohibition als Gin galt, aus einer Porzellantasse, sodass die Barbetreiber bei einer Razzia ihre Hände in Unschuld waschen konnten.
Die Reichen drängten sich vor der Bühne, begeistert davon, Schulter an Schulter mit dem einfachen Volk zu stehen, solange es sich nicht zu dicht und womöglich ohne ausdrückliche Erlaubnis an sie drängte. Und das war es, wofür sie den Cop brauchten. Schreiend und kreischend forderten sie den Beginn der Show und wurden noch aggressiver, als statt
Miss Jeanette Klara – Das strahlende Wunder der Nacht! Der hellste Stern am Firmament! Leuchtende Herrin der Wonnen! Nur diese Woche!
– eine kleine, junge Chinesin in einem zurückhaltend bestickten Seidenpyjama hinter den Kulissen hervortrat und sich im Schneidersitz hinter ein Saiteninstrument an den Bühnenrand setzte. Doch als das Licht gedämpft wurde, hielten sogar die betrunkensten und ausgelassensten unter den mondänen Gästen erwartungsvoll den Mund.
Die junge Frau begann die Saiten zu zupfen und ließ eine schwirrende, in ihrer Fremdheit unheimlich wirkende Melodie erklingen. Zwischen die weißen Stoffbahnen, die kunstvoll auf der Bühne arrangiert waren, schlüpfte ein Schatten, eine Gestalt, die von oben bis unten schwarz verhüllt war wie ein Araber. Ihre Augen glitzerten einmal kurz auf, als von draußen Licht hereinfiel, weil einem Zuspätgekommenen von dem gedrungenen Türsteher knurrend Einlass gewährt wurde. Kalt und wild wie Tieraugen im Licht von Autoscheinwerfern, dachte Harper, der diese Tieraugen gesehen hatte, als er mit seinem Bruder Everett vor dem Hellwerden nach Yankton gefahren war, um Vorräte für die Farm zu kaufen.
Die Hälfte des Publikums hatte nicht einmal mitbekommen, dass da jemand war, bis – auf eine unmerkliche Melodieveränderung in der Musik hin – das Glow Girl einen langen Ärmel abstreifte und einen hell leuchtenden, freischwebenden Arm enthüllte. Die Zuschauer keuchten auf, und eine Frau ganz vorne kreischte schrill vor Entzücken, sodass der Cop erschrak und den Hals verdrehte, um festzustellen, ob etwas passiert war.
Der Arm streckte sich aus, die Hand an seinem Ende zuckte und drehte sich in einem sinnlichen Tanz für sich allein. Sie schwebte spielerisch um den schwarzen Sack herum,
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