Shining Girls (German Edition)
immun geworden, aber Alice hat vor Scham immer noch einen Kloß im Hals. Sie errötet und senkt den Blick auf den Boden, dieses Mal ist es nicht gespielt, und als sie wieder aufschaut, sieht sie
ihn
.
Einen schlanken, flotten, gutgekleideten Mann, der, abgesehen von seiner Nase, sehr attraktiv ist. Er steht hinter der Menge und starrt sie an – und nicht auf die Art, auf die es Männer normalerweise tun, mit wölfischer Gier oder scherzhafter Prahlerei. Er fixiert sie. Als würde er sie kennen. Als könnte er bis in den geheimsten Winkel ihrer Seele blicken. Alice ist so überrascht von der reinen Inbrunst seiner Aufmerksamkeit, dass sie zurückstarrt und Joeys Schlussworte kaum hört. Auf dem Gesicht des Mannes breitet sich ein Lächeln aus, das es Alice warm werden lässt und übel und schwindelig. Sie kann ihren Blick nicht abwenden.
«Ladies and Gentlemen, diese Vorstellung wird Sie
faszinieren
!» Joey schwingt seinen Stock in Richtung einer jungen Frau im Publikum, die verlegen lächelt. «Ich werde Sie
hypnotisieren
!» Er schwingt den Stock erneut herum, deutet auf das Großmaul von zuvor. «Ich werde Sie
erstarren
lassen!» Dann hebt er den Stock, steif und zitternd. Aber nur einen Augenblick lang, bevor er ihn und mit ihm seinen ganzen stattlichen Körper zum Zelteingang unten neben dem Podium herumdreht. «Aber nur, wenn Sie eine Eintrittskarte kaufen! Es gibt nur drei Vorstellungen, meine Damen und Herren. Kommen Sie. Hereinspaziert, lassen Sie sich bilden!»
Joey scheucht die Mädchen die andere Treppe hinunter, während die Menge, inzwischen gespannt auf die Vorstellung, zum Kartenhäuschen abschwenkt. «Schlägst du die Treppe runter kein Rad?», rügt er Alice, doch sie ist damit beschäftigt, sich nach dem Fremden umzusehen. Zu ihrer Erleichterung ist er immer noch da, schiebt sich mit den anderen nach vorn, um eine Eintrittskarte zu kaufen. Als sie die Treppe hinuntersteigen, tritt sie Eva in die Hacken, sodass sie beinahe alle wild durcheinanderpurzeln wie die Milchflaschen beim One Ball, wenn ein Schausteller die schwere Flasche ganz oben auf die Pyramide stellt, um zu beweisen, dass hier nicht getrickst wird, liebe Leute.
«Sorry, sorry», flüstert sie.
Sie wird noch aufgeregter, als sie durch den Spalt zwischen den Vorhängen späht und ihn bewegungslos wie einen Felsen in der Flut der Gäste stehen sieht, die sich zu den besten Plätzen drängen. Bei den Bonbonverkäufern läuft schon die übliche krumme Tour. «Kauft Bonbons, gewinnt etwas dazu!» Bobby wickelt ein älteres Paar ein, aber Micky entdeckt den Mann, der ganz allein in der Menge steht, und stürzt sich auf ihn. «Hallo, Mister, wollen Sie etwas gewinnen? Wir haben ein neues Konfekt, es heißt Anna Belle Lee und ist gerade erst auf den Markt gekommen. Und jetzt sag ich Ihnen was: Wir sind hundertprozentig überzeugt, dass Sie es mögen werden, und deswegen haben wir in manchen Päckchen ein Überraschungsgeschenk versteckt. Es gibt Damen- und Herrenarmbanduhren, Feuerzeuge, Schreibsets und Fünf-Dollar-Brieftaschen. Nutzen Sie Ihre Chance, vielleicht haben Sie ja Glück! Nur fünfzig Cent! Da schmecken die Bonbons noch mal so süß! Was sagen Sie dazu?» Aber der Typ schiebt ihn einfach weg, ohne ihn auch nur anzusehen, das Gesicht hält er der Bühne zugewandt. Er wartet auf sie. Das weiß Alice mit absoluter Sicherheit.
Es ist so nervenzermürbend, dass sie beinahe ihren Auftritt versaut. Die Scheinwerfer blenden sie, sodass sie den Zuschauerraum nicht sehen kann, aber sie spürt seinen Blick. Sie verpasst ihr Stichwort, dann springt sie beim Flickflack falsch ab und stürzt fast von der Bühne. Glücklicherweise passt das gut in ihren Auftritt, denn sie spielt eine Cheerleaderin, die von Micky im Zoe Suit, dem Anzug im Al-Capone-Stil, mit Drogen und Versprechungen gefügig gemacht wird, sodass sie in der Schlussszene in Stöckelschuhen und einem billigen Kleidchen an einer Straßenlaterne lehnt, nachdem sie ihre Unschuld, wie Joey in seiner atemlosen Erzählung berichtet, an die «endgültige Verderbnis» verloren hat. Der Scheinwerfer schwenkt dramatisch von ihr weg, und sie schlüpft von der Bühne, um Platz für die nächste Szene zu machen, in der die anonyme Nymphomanin von zwei strammen, jungen Bühnenarbeitern mitsamt der Couch hereingetragen wird, auf der sie dekadent faulenzt.
«Da hat jemand einen Bewunderer», spottet Vivian. «Weiß er, dass er einen gefälschten Gewinn in seiner Bonbonschachtel hat?»
Und
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