Shining Girls (German Edition)
Familienbühne.»
Sie hält es nicht aus. Weinend flattert sie aus dem Wohnwagen wie eine Taube aus dem Ärmel des Zauberers. Und läuft ihm direkt in die Arme.
«Na, na, Schätzchen, immer langsam. Ist alles in Ordnung?»
Sie kann kaum fassen, dass er es ist. Dass er auf sie gewartet hat. Sie versucht zu sprechen, aber ihr Atem kommt in jagenden Schluchzern. Sie schlägt sich die Hände vors Gesicht, und er drückt sie eng an seine Brust. Sie hat noch nie zuvor das Gefühl solch vollkommener Zugehörigkeit gehabt. Sie sieht zu ihm auf. Seine Augen sind feucht, als würde er gleich selbst anfangen zu weinen.
«Nicht», sagt sie voll verzweifeltem Mitleid und hebt ihre langen, schlanken Finger (Mädchenhände, hat ihr Onkel immer gesagt) zu seiner Wange. Alles in ihr will es. Sie könnte in ihn hineinsinken.
Es rührt sie, dass er genauso überwältigt ist wie sie. Sie unterbricht sein Weinen mit ihren Lippen. Sein Mund drückt sich heiß gegen ihren, sie riecht Karamell in seinem Atem, bevor er sich erschrocken und verwirrt zurückzieht.
«Du bist ein erstaunliches Mädchen», sagt er. Er kämpft gegen einen inneren Aufruhr, das liest sie ihm vom Gesicht ab. Vergiss es, denkt sie. Küss mich noch einmal. Ich gehöre dir.
Vielleicht besitzt er übersinnliche Kräfte, wie Luella es von sich behauptet, denn es ist, als hätte er sie gehört und einen Entschluss gefasst. «Geh mit mir weg, Alice. Wir müssen das nicht machen.»
Ja. Das Wort liegt ihr auf den Lippen. Und dann macht Joey alles kaputt. Wie ein zorniges Insekt zeichnet er sich oben an der Wohnwagentreppe ab. «Hey, Mister, was zum Teufel machen Sie da?»
Der Fremde lässt sie los. Joey poltert die Treppe herunter und schwenkt seinen absurden juwelengekrönten Gehstock. «Das ist nicht diese Art Theater hier, mein Freund. Nehmen Sie die Hände weg, bitte.»
«Das hier geht Sie nichts an, Mister.»
«Entschuldigen Sie. Vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt, verdammt. Hände weg,
sofort
.»
«Gehen Sie wieder rein, Joey», sagt Alice, die von solcher Ruhe erfüllt ist, dass ihr schwindlig davon wird.
«Sorry, Prinzessin. Das kann ich nicht durchgehen lassen. Als Nächstes glaubt jeder Bauerntölpel, dass es hier was für ihn zu holen gibt.»
«Schon gut», sagt ihr Geliebter und rückt angesichts von Joeys Gepolter trotzig seinen Hut zurecht. Aber dann geht er. Alice packt ihn entsetzt am Arm.
«Nein! Verlass mich nicht.»
Er tätschelt sie sanft unterm Kinn. «Ich komme zurück zu dir, Alice», sagt er. «Versprochen.»
Kirby
27 . August 1992
Kirby hat die Anzeige jeden ersten Samstag im Monat geschaltet, und jeden Donnerstag leert sie das Postfach. Manchmal bekommt sie nur ein oder zwei Antworten. Sechzehneinhalb sind der Rekord für einen Monat, wenn man die Postkarte mitrechnet, die mit Obszönitäten vollgekritzelt war.
Wenn Dan in der Stadt ist, geht sie zu ihm, damit sie die Antworten gemeinsam durchsehen können. Heute macht er Seewolf mit Kartoffelpüree und klappert in seiner Junggesellenküche herum, während sie den Stapel durchgeht.
Die erste Aufgabe an jedem Posttag ist die Sortierung der Antworten in Kategorien: traurig, aber nicht brauchbar, möglicherweise interessant und Spinner.
Viele Briefe sind herzzerreißend. Wie der von einem Mann, dessen Schwester erschossen wurde. Acht Bögen, doppelseitig und handschriftlich, die genau schildern, wie sie von einer verirrten Kugel aus einem vorbeifahrenden Auto getroffen wurde. Der einzige ungewöhnliche Gegenstand an diesem Tatort war nicht unbedingt ein Fremdkörper. Die Patronenhülse.
Manche Briefschreiber sind am Rande einer psychischen Störung. Die Frau, die nach einem böse ausgegangenen Einbruch den Geist ihrer Mutter sah, der kontrollierte, ob sie die Katze gefüttert hatte. Der Junge, der sich selbst die Schuld gab – hätte er doch nur den Typen, die sie überfallen hatten, seine Uhr gegeben, dann hätten sie nicht geschossen, und sie wäre noch am Leben, und jetzt sieht er überall diese Uhr. In Zeitschriften und Schaufenstern und auf Werbeplakaten und an den Handgelenken anderer Leute. Glauben Sie, das ist Gottes Strafe für mich?, schreibt er.
Diesem und den anderen Briefeschreibern, die sie eindeutig nicht weiterbringen, dankt Kirby in einem kurzen Brief für die Zeit, die sie sich genommen haben, und fügt eine Information über eine kostenlose lokale Beratungsstelle für Verbrechensopfer an, die Chet für sie ausfindig gemacht
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