Shining Girls (German Edition)
hat.
In all den Monaten schien sich nur bei zwei Briefen die Weiterbeschäftigung mit dem Fall zu lohnen. Im Fall einer jungen Frau, die vor einem Nachtclub erstochen worden war und die man mit einem antiken russisch-orthodoxen Kreuz um den Hals auffand. Aber der Brief kam von ihrem russischen Gangsterfreund, der wollte, dass Kirby für ihn mit der Polizei verhandelte, damit er das Kreuz zurückbekam, das von seiner Mutter stammte. Er selbst konnte nicht direkt mit der Polizei in Kontakt treten, nachdem es seine Geschäfte gewesen waren, die zum Tod seiner Freundin geführt hatten.
Bei dem anderen Fall ging es um einen Jungen im Teenageralter, der in einer Unterführung gefunden worden war, in der die Skater abhingen. Er war totgeschlagen worden, und man hatte ihm einen Bleisoldaten in den Mund geschoben. Die Eltern waren völlig aufgelöst, saßen auf ihrem Wohnzimmersofa, über dem eine peruanische Decke lag, die Hände ineinander verkrampft, als wären ihre Finger zusammengeschmolzen, und fragten Kirby nach Erklärungen. Bitte, das war alles, was sie wollten. Warum? Was hatte er getan, um so etwas zu verdienen? Es war grauenvoll.
«Sind heute Fotos von J dabei?», sagt Dan und schaut ihr über die Schulter. J ist so etwas wie ihr Brieffreund. Er schickt ihnen kunstvoll arrangierte Todesszenen von einer jungen Frau mit dramatisch geschminkten Augen und rotem Haar. Sie könnte selbst J sein, wenn man davon ausgeht, dass J eine Frau ist, oder Js Freundin. Sie liegt in einem fließenden weißen Gewand ertrunken in einem Fischteich, die Haare um sie im Wasser treibend. Oder sie stirbt in schwarzer Spitzenwäsche mit ellenbogenlangen Handschuhen und klammert sich an eine weiße Rose, während sich um sie eine riesige Blutpfütze ausbreitet, die verdächtig nach Wandfarbe aussieht.
Das heutige Foto in dem schwarzen Umschlag zeigt J mit gespreizten Beinen, halterlosen Strümpfen und Armeestiefeln auf einem Ledersessel, ihr Kopf ist zurückgeworfen, die Wand hinter ihr blutrot bespritzt, und von ihren schwachen Fingern mit perfekt manikürten Nägeln baumelt ein Revolver herab.
«Ich wette, das ist ein Student von der Kunsthochschule», nörgelt Kirby. Sie antworten J nie. Und trotzdem kommen immer wieder diese perversen Fotos.
«Immer noch besser als ein Student von der Filmhochschule», sagt Dan beiläufig, während er den Fisch filetiert.
«Das macht dich immer noch fertig, oder?» Sie grinst.
«Was?»
«Dass du nicht weißt, ob ich mit ihm geschlafen habe.»
«Natürlich hast du das. Er war deine erste Liebe. Das ist nicht gerade das Allerneueste, Kleine.»
«Du weißt genau, was ich meine.»
«Außerdem geht es mich nichts an.» Er zuckt mit den Schultern, als wäre es ihm egal, und das zwickt sie, sogar ziemlich, wenn sie ehrlich ist.
«Na gut. Dann erzähle ich es dir nicht.»
«Ich glaube aber immer noch, dass du keinen Dokumentarfilm über dich drehen solltest.»
«Soll das ein Witz sein? Ich habe schließlich schon die Einladung zu Oprah Winfrey abgelehnt.»
«Autsch, Mist», sagt er, weil er sich beim Abgießen der Kartoffeln am Wasserdampf verbrüht. «Wirklich? Das wusste ich gar nicht.»
«Meine Mom hat es gemacht. Ich lag noch im Krankenhaus. Sie hatte Stress mit den Journalisten. Sie sagte, sie wären Trottel und würden entweder praktisch in mein Zimmer im Krankenhaus einbrechen, um ein Interview zu bekommen, oder sie nie zurückrufen.»
«Oh», sagt Dan schuldbewusst.
«Ich wurde zu einer Menge Talkshows eingeladen. Aber es hat unheimlich nach Voyeurismus gerochen, weißt du? Das war auch einer der Gründe, warum ich verschwinden musste. Einfach weg von alldem.»
«Das verstehe ich.»
«Also mach dir keine Sorgen. Ich habe Fred gesagt, er soll sich diesen Dokumentarfilm abschminken.»
Kirby hebt einen pfirsichfarbenen Umschlag an die Nase. «Der hier riecht sogar gut. Das ist bestimmt ein schlechtes Zeichen, oder?»
«Ich hoffe, so was sagst du nicht über mein Essen.»
Kirby lacht und reißt den Umschlag auf. Sie zieht zwei Seiten altmodisches Geschäftspapier heraus. Die Blätter sind beidseitig beschrieben. «Lies mal vor», sagt Dan, der die Kartoffeln püriert. Er setzt seinen ganzen Stolz darauf, sämtliche Klümpchen zu beseitigen.
Lieber KM ,
ich schreibe Ihnen hier einen ganz besonderen Brief, und ich muss sagen, dass ich lange gezögert habe, aber Ihre (reichlich stumpfsinnige) Anzeige in der Zeitung verlangt eine Antwort, denn sie ist für mich mit einem
Weitere Kostenlose Bücher