Shining Girls (German Edition)
Frau an der Straßenecke abholen und ihr die Augen verbinden, damit sie niemanden identifizieren kann, und ihr dann die Gebärmutter ausschaben und die Frau hinterher wieder auf der Straße abladen, als wäre es nichts weiter als ein Hallo-wie-geht’s-Ma’am-und-einen-schönen-Tag-noch gewesen. Oder vielleicht ist er einfach nur irgendein Typ. Ein Luftschlosstyp.
«Was hast du gesagt?» Jemmies Atem ist gepresst vor Schmerzen.
«Oh Mensch, sorry, hab nur laut gedacht. War unwichtig, Jemmie. Oh, sieh mal, wir sind fast da.»
«Er war keiner, weißt du.»
«Kein was?» Margot hört nicht richtig zu. Der Mann hat seinen Schritt beschleunigt, rennt beinahe über die Straße auf das Licht der Straßenlampe zu, um mit ihnen auf einer Höhe zu bleiben. Er tritt in eine knöcheltiefe Pfütze, schüttelt fluchend den Fuß aus, und dann grinst er sie dümmlich an, eindeutig, um sie zu beruhigen.
Jemmie ist sauer auf sie. «Ein Luftschlosstyp, wie du gemeint hast. Wir sind verlobt. Wir heiraten, wenn er zurück ist. Sobald ich sechzehn bin.»
«Das ist toll», sagt Margot. Sie ist nicht gerade in Topform. Normalerweise hätte sie Jemmie darauf angesprochen, auf einen erwachsenen Mann, der mit einer Minderjährigen rummacht, bevor er sich nach Vietnam einschifft, und ihr das Blaue vom Himmel verspricht, obwohl er es nicht mal schafft, sich ein Gummi überzuziehen. Vierzehn Jahre alt. Kaum älter als die Kids, die Margot vertretungsweise in der Thurgood Middle School unterrichtet. Unter so etwas leidet sie richtig, Mann. Aber sie ist abgelenkt, hält Jemmie keine Predigt, weil ihr der unbehagliche Gedanke im Kopf herumgeht, dass ihr dieser Typ, der sie verfolgt, bekannt vorkommt. Was sie wieder auf ihre Litanei zurückbringt. Verbrecher-Perverser-Zivilbulle. Oder noch schlimmer. Ihr Magen krampft sich zusammen. Ein wütender Ehemann. So was haben sie auch schon erlebt. Isabel Steritts Mann, der seiner Frau das Gesicht eingeschlagen und ihr den Arm gebrochen hat, als er auf das gekommen war, was sie getan hatte. Und das war genau der Grund, aus dem sie kein weiteres Kind mit ihm haben wollte.
Oh bitte, lass es keinen durchgeknallten Ehemann sein.
«Können wir … können wir kurz stehen bleiben?» Jemmies Gesichtsfarbe erinnert an alte Schokolade, die schon einmal geschmolzen ist. Schweiß und Regen lassen ihre pickelige Stirn glänzen. Auto schlappgemacht. Keinen Schirm dabei. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?
«Wir sind fast da, okay? Du machst es echt gut. Halt noch ein bisschen durch. Nur noch einen Block. Schaffst du das?»
Widerstrebend lässt sich Jemmie weiterziehen. «Kommst du mit mir rein?»
«Würde deine Mom das nicht komisch finden? Dass dich eine Weiße heimbringt, wenn du Magenkrämpfe hast?»
Margot fällt auf. Das liegt an ihrer Größe. Über eins achtzig und rotblondes Haar mit Mittelscheitel. In der Highschool hat sie Basketball gespielt, aber ohne es richtig ernst zu nehmen.
«Aber kannst du nicht trotzdem mit reinkommen?»
«Wenn du willst», sagt sie und versucht ein bisschen Begeisterung zusammenzukratzen. Der Familie irgendetwas zu erklären, läuft meistens nicht so gut. «Das entscheiden wir, wenn wir angekommen sind, okay?»
Sie wünschte, Jemmie hätte sie früher entdeckt. Der Dienst steht unter «Jane How» im Telefonbuch, aber wie soll man darauf kommen, wenn man es nicht weiß? Genau wie bei den Anzeigen in den alternativen Zeitungen oder den Aushängen im Waschsalon. Mädchen wie Jemmie haben keine Chance, sie zu finden, wenn sie keinen Tipp bekommen, und dazu hatte es dreieinhalb Monate und eine Sozialarbeiterin in Vertretung gebraucht, die der Sache aufgeschlossen gegenüberstand. Manchmal denkt Margot, es sind die Vertretungen, die wirklich etwas bewirken. Vertretungslehrer und -sozialarbeiter und -ärzte. Ein neuer Blick auf die Sache. Das große Ganze. Ein Aufstieg. Wenn auch nur vorläufig. Aber manchmal ist vorläufig alles, was man braucht.
Fünfzehnte Woche ist grenzwertig. Man darf einfach kein Risiko eingehen. Zwanzig Frauen täglich, und sie haben noch keine einzige verloren. Es sei denn, man zählt die junge Frau mit, die sie weggeschickt haben, weil sie eine schreckliche Entzündung hatte, sie haben ihr gesagt, sie soll zum Arzt gehen und wiederkommen, wenn die Entzündung geheilt wäre. Später haben sie herausgefunden, dass die Frau im Krankenhaus gestorben ist. Wenn sie bloß früher gekommen wäre. Und Jemmie auch.
Jemmies Karte ist als eine der
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