Shining Girls (German Edition)
letzten vergeben worden. Die einfachen Fälle sind schnell weg. Die Freiwilligen sitzen im gemütlichen Wohnzimmer von Big Jane im Hyde Park, wo die Fotos ihrer Kinder auf den Regalen stehen und «Me and Bobby McGee» auf dem Kassettenspieler läuft, und feilschen beim Teetrinken um die Karten, als würden sie Pferde verkaufen.
Zwanzigjährige Studentin, fünfte Woche, aus dem Vorort Lake Bluff? Diese Karteikarte ist bei der ersten Runde weg. Aber die achtundvierzigjährige Mutter, die schon mit sieben Kindern überlastet ist und das alles einfach nicht noch mal durchmachen kann? Die Leiterin eines Landwirtschaftsbetriebs, deren Baby so missgebildet ist, dass der Arzt (oder die Ärztin) sagt, es würde nach der Geburt keine Stunde überleben, und trotzdem darauf besteht, dass sie es austrägt? Die Vierzehnjährige von der West Side, die mit einem Weckglas voller Pennys auftaucht, weil das alles ist, was sie hat, und darum bettelt, dass ihre Ma nichts von der Sache erfährt? Diese Karten tauchen bei jeder Runde wieder auf, bis Big Jane genervt ist und knurrt: «Also,
irgendwer
muss sie nehmen.» Und in der Zwischenzeit kommen neue Nachrichten auf dem Anrufbeantworter an, die auf neue Karten für den nächsten und den übernächsten Tag übertragen werden. Hinterlassen Sie Ihren Namen und eine Telefonnummer, unter der wir Sie erreichen können. Wir können Ihnen helfen. Wir rufen Sie zurück.
Wie vielen hat Margot inzwischen geholfen? Sechzig? Einhundert? Die konkrete Ausschabung macht sie nicht. Darin ist sie bestenfalls ungeschickt. Es liegt an ihrer Größe. Die Welt ist nicht auf ihre Dimensionen zugeschnitten, und sie traut sich den Umgang mit dieser schmalen Kürette nicht zu. Aber im Händchenhalten und Erklären, was vorgeht, ist sie richtig gut. Das Wissen hilft. Was mit dir gemacht wird und warum. Die Schmerzen etikettieren, witzelt sie manchmal. Sie gibt den Frauen einen Bezugsrahmen. Ist das schlimmer oder nicht so schlimm, wie sich den Zeh anzustoßen? Und wie weh tut es im Vergleich, wenn die große Liebe nicht erwidert wird? Als hätte man sich an einer Papierkante geschnitten? Als hätte man sich mit der besten Freundin gestritten? Als würde man feststellen, dass man seiner Mutter immer ähnlicher wird? Manchmal müssen die Frauen sogar lachen.
Die meisten weinen hinterher trotzdem. Manchmal, weil sie traurig sind, Schuldgefühle oder Ängste haben. Sogar die selbstsichersten haben Zweifel. Alles andere wäre auch unmenschlich. Aber meistens weinen sie aus purer Erleichterung. Weil es eine schwere und schreckliche Entscheidung war, aber jetzt ist es vorbei, und sie können mit ihrem Leben weitermachen.
Es wird schwieriger. Nicht nur wegen der Schlägertypen von der Mafia oder den Cops, die sich auf sie stürzen wollen, seit Yvette Coulis’ selbstgerechte Schwester derart durchgedreht ist, weil sie es gewagt hatten, eine Abtreibung an Yvette vorzunehmen, sodass die Schwester Protestbriefe an den Stadtrat geschrieben und die Allgemeinheit aufgehetzt hat. Das Schlimmste daran war, dass die Schwester anfing, auf der Front Street herumzuhängen und die Freundinnen, Ehemänner oder Geliebten oder Moms und manchmal auch Dads zu drangsalieren, die zur Unterstützung der Frauen mitgekommen waren. Sie mussten von der Front Street in eine andere Wohnung ziehen, um die Schwester loszuwerden. Danach hatten die Cops angefangen herumzuschnüffeln. Die größten Männer, die man sich vorstellen kann, als wäre das bei der Mordkommission eine Zugangsvoraussetzung, mit Einheits-Trenchcoats und verdrießlichen Mienen, die sagten, dass hier ihre Zeit verschwendet wurde.
Und das ist noch nicht einmal das größte Problem – das größte Problem besteht darin, dass es in New York inzwischen legal ist. Was im Grunde eine gute Sache ist, und vielleicht schließt sich Illinois dieser Entscheidung ja an. Aber es bedeutet, dass die reichen Frauen in einen Zug, einen Bus oder ein Flugzeug steigen und diejenigen, die zu Jane kommen, wirklich verzweifelt sind – die armen, die jungen, die alten, die in der Schwangerschaft weit vorangeschrittenen.
Mit diesen Frauen hat sie es am schwersten. Das geht sogar den abgebrühtesten Janes so. Ist ja klar. Wer wissen will, wie es ist, muss erst mal seinen ersten Fötus in ein altes T-Shirt als Leichentuch gewickelt und drei Meilen entfernt in einen Müllcontainer geworfen haben. Aber es hat auch niemand behauptet, es wäre schön, den Frauen die Verzweiflung aus den Körpern zu
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