Shit
Freundebuch in die Hand.
„Lies mal!“, forderte sie ihn auf.
Marco blätterte in dem Album.
Alle guten Wünsche und netten Zeilen der ehemaligen Mitschüler hatte Anja mit einem schwarzen Stift bis zur Unlesbarkeit durchgestrichen.
In den Freundebüchern wurde im Gegensatz zum Internet niemand beleidigt oder fertiggemacht.
Marco konnte nur noch vereinzelt Worte wie
die besten Wünsche für die Zukunft, Glück, Gesundheit, Liebe, Freundschaft
entziffern.
Einige Blätter waren herausgerissen.
Er suchte vergeblich sein Gedicht mit den damit verbundenen Wünschen für Anjas weiteren Lebensweg und starrte wie gebannt auf einen Text, in dem mit Bierkränzen und Rotweinflecken übersäten Album.
Mein Gesicht ist zersplittert
,
ich schaue hinter einer lächelnden Maske
traurig in die Welt
,
ich würde mich so gerne abschminken
,
so gerne weinen, aber ich kann es nicht
.
Ihr findet den Weg nicht in unsere Porzellanwelt,
wir wollen nur glücklich sein,
glücklich sind wir nur, wenn wir träumen,
aber wir haben das Träumen verlernt
.
Es gibt Drogen, die uns zum Träumen verhelfen
,
wir müssen diese Drogen immer wieder nehmen,
denn wir wollen doch glücklich sein
.
Wir können heute nicht mehr ohne Drogen träumen,
wir brauchen sie zum Glücklichsein
.
Die Droge träumt für uns, fühlt für uns, zerstört uns,
und wir selbst sind nur noch Hülle,
leer, unsere Gesichter sind zersplittert
.
„Hast du das geschrieben, Anja?“
Anja nickte.
Der Kopf fiel auf ihre Brust.
Neben Anja erwachte im gleichen Moment ein junger Mann, setzte sich aufrecht hin und rückte näher an die beiden heran.
Marco nahm den beißenden Geruch sofort wahr und spürte die Übelkeit in sich aufsteigen.
Anja schien das Erbrochene direkt neben ihr nicht zu riechen.
Der Junge hatte mit seinen langen Haaren auf der säuerlich stinkenden Kotze gelegen.
„Ll...s mal, ww...s sch...schrieb hab“, flüsterte er mit schwerer Zunge.
„Man versteht ihn kaum, wenn er Remes eingeworfen hat“, flüsterte Anja, als müsse sie sich für ihn entschuldigen.
„Da, da“, stammelte der Junge und sein Zeigefinger schwankte in Richtung des Albums.
„ Seite 25 !“, sagt Anja, ohne zu zögern. „Das hat er geschrieben.“ Offensichtlich kannte sie das Buch in- und auswendig.
Marco blätterte mit zitternden Händen weiter.
Ich habe noch den Duft der Erntefeuer in der Nase, wenn ich hier auf dem Gras im Schlosspark liege – fast ist es so wie früher, aber als Kind konnte ich noch etwas anfangen mit dem duftenden Stroh und dem Geruch des Kartoffelfeuers
.
Wenn wir heute ein Feuer entzünden, dann, um diesen scheiß Stoff aufzukochen. Früher konnte ich noch etwas anfangen mit dem frischgemähten Gras und dem Geschmack von frischzerkauten Weizenkörnern, die besser als Kaugummi schmeckten, denn wir hatten sie selbst geerntet
.
Wie gerne würde ich nochmal schmecken und riechen, aber meine Geschmacks- und Riechnerven sind kaputt wie mein Leben, das ich für dieses beschissene Pulver gegeben habe.
Heroin schmeckt bitter, und das Leben ist hart, es ist zu spät – nur noch Erinnerungen bleiben
.
„Wir wollen das Oberbürgermeister Göttlich zeigen.“
Marco sah sie erstaunt an und spürte wieder den Brechreiz aufsteigen. Er atmete tief durch und schluckte das aufsteigende Mundwasser hinunter.
„Wieso dem Oberbürgermeister?“, fragte Marco.
„Die Stadt muss uns einen Raum geben, wo wir uns im Winter treffen können. Sonst erfrieren wir.“
Dann sah sie Marco fast flehend an und legte ihre Hände auf seinen Unterarm.
„Verstehst du mich? Wir sind alle in dieser Stadt groß geworden. Man kann uns doch nicht einfach hier verrecken lassen.“
„Und was wollt ihr genau?“, fragte Marco und atmete weiter durch den Mund.
Der Junge hatte sich wieder auf sein Erbrochenes gelegt.
Marco erschrak, als plötzlich direkt neben ihm eine schrille Stimme schrie: „Wir wollen auch in Koblenz Fixerräume, sterile Spritzen, Duschen und ein Übernachtungsangebot wie in Frankfurt.“ Das Mädchen. hatte wohl schon eine Zeit lang das Gespräch verfolgt. „Aber in diesem Provinznest geht das ja allen am Arsch vorbei. Das ganze Geld wird für die BUGA ausgegeben. Und der Bischof in Limburg baut sich für Millionen eine Villa neben dem Dom und gleichzeitig werdendie Gelder für die Drogenberatungsstelle gestrichen. Das ist wahre christliche Nächstenliebe, was, Leute?! Und keiner tut was dagegen. Bis mal wieder das Kind eines Politikers in der
Weitere Kostenlose Bücher