Shit
Unterführung in Richtung der Flußwiesen ging, stolperte er fast über die ausgestreckten Beine des Mädchens, das auf der Wiese saß.
Das Mädchen hatte den Kopf weit nach vorne gebeugt. Die langen pechschwarzen Haare verdeckten ihr Gesicht und berührten ihre Oberschenkel. In der rechten Hand hielt sie eine Spritze. Mit zitternden Händen tastete sie den linken Unterarm ab und suchte verzweifelt eine Vene, in die sie die Spritze reinjagen konnte.
Wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen lagen mehrere in Schlafsäcken und Decken eingehüllte Körper auf der Wiese.
Manche von ihnen ineinanderverschlungen.
Einige hatten die Schule geschmissen, andere die Arbeitsstelle verloren, falls sie jemals eine solche angetreten hatten.
Selbst mit einem guten Schulabschluss war es heutzutage schwierig, einen Job zu finden.
Und weil es kein städtisches Angebot gab, hatten sie sich zu einer Notgemeinschaft zusammengefunden und die Wiese in der warmen Jahreszeit als Treffpunkt und Übernachtungsort besetzt.
Marco starrte wie gebannt auf diese Szene und erinnerte sich in diesem Moment an den Kinofilm
Lauf um dein Leben
über die Lebensgeschichte des Triathleten Andreas Niedrig, der früher heroinabhängig war und als Extremsportler den Weg aus der Sucht gefunden hatte. Besonders gut hatte ihm der Schauspieler Max Riemelt in der Rolle von Andreas Niedrig gefallen. Und auch Axel Stein hatte gezeigt, dass er mehr knnte, als nur Comedy im Fernsehen.
Aber das hier war weder Fernsehen noch Film.
Das war trauriger Fixeralltag.
Hautnah, im wahrsten Sinne des Wortes.
Das Mädchen stach sich die Spritze in den Unterarm.
Dann hob sie den Kopf und blickte ihn mit gläsernen Augen seltsam lächelnd an.
Nein, sie schaute durch ihn hindurch.
Ihre Augäpfel bewegten sich nicht.
Es sah aus, als würden sie in einer gelatineartigen Masse festkleben.
„Anja?“, fragte Marco verunsichert und mit bebender Stimme.
Das Mädchen lächelte und klopfte mit der rechten Hand auf den Boden.
„Hallo! Komm, setz dich zu mir!“
Marco setzte sich neben sie auf den Rasen.
Er hatte sie mit den schwarzen Haaren fast nicht erkannt und war sich nicht sicher, ob sie wusste, wer neben ihr saß.
„Wo warst du die ganze Zeit?“
„Ich war noch nie so glücklich, echt“, flüsterte Anja, ohne auf seine Frage zu antworten.
Marco wollte wieder aufstehen, aber Anja umklammerte mit beiden Händen seinen Arm.
„Bleib noch ein bisschen! Marco, bitte“, flüsterte sie.
„Anja, was machst du hier?“
Marcos Stimme zitterte.
Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, dachte er: Blöde Frage.
„Ich weiß, ich habe immer gesagt, ich nehm kein Pulver. Aber wenn du das geile Gefühl einmal erlebt hast, lässt dich das Gift nicht mehr los. Dann bist du nur noch auf der Jagd nach der Droge. Sie bestimmt deinen Alltag. Fixer ist ein Full-time-Job: Da hast du keine Zeit für andere Sachen. Und erst recht nicht für Schule. Geld besorgen, Drogen kaufen, fixen, Affen schieben, Geld besorgen und so weiter. Und das vier-undzwanzig Stunden am Tag. Ja, so ist das! Da konnte ich doch nach den Ferien nicht mehr in die Schule kommen.“
„So schnell warst du drauf?“
Anja nickte.
„Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt? Wir haben dich wochenlang in der ganzen Stadt gesucht. Die Polizei hat mit Hunden den Stadtwald durchkämmt.“
„Echt?“
„Hast du denn nicht unsere Plakate in der Stadt gesehen?“
„Plakate?“
„Ja! Riesengroß. In der ganzen Stadt! Mit deinem Foto. Komm zurück, haben wir auf die Plakate geschrieben und überall Handzettel verteilt.“
„Und das alles wegen mir? Wirklich?“
„Ja klar!“
„Auh geil! Habt ihr die nur in Koblenz verteilt?“
„Ja, wo denn sonst noch?“
Anja lächelte triumphierend.
„Ich war die ganze Zeit in Köln. Bin erst seit vier Tagen wieder in Koblenz!“
Anja lehnte sich zurück, griff nach der Patchworktasche und zog ihr altes Freundebuch mit den Fotos ihrer Klassenkameraden hervor.
Einige aus der Klasse hatten Anja nicht nur ein Foto zum Einkleben gegeben, sondern außer ihren persönlichen Interessenund Wünschen für die Zukunft noch ein paar nette Zeilen geschrieben.
Das Internet hatte inzwischen diese Freundebücher abgelöst und die “ganze Welt“ konnte fast alles über einen selbst erfahren. Auch Dinge, die man lieber für sich behalten hätte.
Das Internet – ein offenes Buch, in dem jeder blättern und „Geheimnisse“ entdecken kann.
Anja drückte Marco das
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