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Shiva Moon

Shiva Moon

Titel: Shiva Moon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helge Timmerberg
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Verkehr auf einer indischen Überlandstraße zu sagen: Er ist ganzheitlich. Im historischen Sinn. Was immer seit der Erfindung des Rads für Bewegung sorgte, ist auf ihr unterwegs. Fangen wir mal oben an. Ich habe Rolls-Royce gesehen und Jaguars, auch fette Mercedesse und BMWs. Die Mittelklasse ist meistens japanisch, in der Klasse darunter fahren wir. So weit, so modern, aber in der endlosen Karawane der Lastwagen reicht das Baujahr schnell mal zurück bis in die sechziger Jahre, dasselbe gilt für die Parallelkarawane der Busse. Immerhin sprechen wir hier noch von den sechziger Jahren des 20.   Jahrhunderts. Es gibt aber auch Fahrzeuge auf dieser Straße, die irgendwann in der Steinzeit up to date waren. Wann genau wurde der Wasserbüffelkarren erfunden? Ungefähr mit dem Wasserbüffel. Und Wasserbüffel gibt’s schon lange. Sie sindeine sehr erfolgreiche Spezies. Stark, wehrhaft und nicht wasserscheu. Sogar schnell. Ich habe ’ne Menge von ihnen im Galopp Fahrräder, sogar Motorrikschas überholen sehen. Trotzdem wäre eine neue Autobahn für alle hier das Beste. Glauben Sie mir.
    Je näher wir Delhi kommen, desto schweigsamer werden wir. Nicht weil wir die Hauptstadt fürchten. Es ist eben so, dass man sich nach vier Stunden Fahrt nichts mehr zu sagen hat, es sei denn, man liebt Wiederholungen. Jeder brütet vor sich hin, und was mich angeht, ich brüte über einem alten Problem. Warum taugen eigentlich meine Schwüre nichts? Das wird beim Jüngsten Gericht mit Sicherheit einmal Thema werden. Hatte ich dem Ganges nicht etwas versprochen? An seiner Quelle, also hoch und heilig? Und jetzt? Fließt der Ganges neuerdings nach Delhi? Nein, das macht er nicht. Er biegt weiterhin hinter Haridwar nach links in Richtung Varanasi ab. Und noch etwas. Wie kommt es eigentlich, dass man immer mehrere Stimmen in sich hat? Soeben sprach der Richter, jetzt spricht der Verteidiger. «Nee, Euer Ehren, so war das nicht. Mein Mandant hat nicht dem Ganges was versprochen, sondern er hat im Angesicht des Ganges sich selbst ein Versprechen gemacht.»
    «Ein Versprechen an sich selbst zu brechen ist ein noch abscheulicheres Verbrechen», sagt der Richter.
    «Einspruch, Euer Ehren. Wenn das Selbst der Adressat eines Schwurs gewesen ist, dann kann das Selbst natürlich auch auf dessen Erfüllung verzichten.»
    Die Verhandlung wird vertagt. Denn morgen ist Happy Diwali, das wichtigste Fest Indiens. Es ist vergleichbar mit unserem Weihnachten, und man solltees mit Freunden verbringen. Aber Jaquelina fliegt nach Deutschland, Jane geht irgendwohin, und ich habe keine Lust, allein den Ganges weiter runterzuziehen. So einfach ist das mit dem Brechen von Versprechen. Es ist die Angst, (wieder) allein zu sein. Nein, Angst ist zu viel. Es ist ein Unbehagen.
    Außerdem sehne ich mich nach Alkohol.
     
    Es wird dunkel. Das steht Indien immer. Die Lampen, Lichterketten und knallbunten Neonröhren, die Garküchen inklusive der offenen Flammen unter den Teepötten, die Leuchtreklamen, die Funzeln an den Fahrrädern, all das und noch so viel mehr verzaubert die Trostlosigkeit der kleinen und mittleren Industriestädte zwischen dem Himalaya und New Delhi in etwas Aufregendes, in dem die Farben stimmen. Aber was ich sehe, als wir endlich am Stadtrand von New Delhi sind, sprengt den Rahmen aller bisherigen Genüsse. Ich sage sprengen, weil ich einfach nicht weiß, wie ich es bewerten soll. Ist es lustig, oder ist es traurig? Schön oder schaurig? Romantisch oder unromantisch? Lieb oder böse? Das Ende oder der Anfang? Ich kann mich nicht entscheiden. Vielleicht können Sie’s. Folgendes Bild: Der Stadtrand von Delhi ist nur noch Industrie und Straßenverkehr. Luft ist abgeschafft, die Blumen sind erstickt, keine Bäume, nicht mal Gras hat überlebt. Und dann stehen da im Herzen der Finsternis und des Smogs plötzlich riesige Vergnügungsparks mit fluoreszierenden Neonpalmen in Originalgröße. Der alte Traum von Indien. Im Hightechgewand. Also ich bin wirklich niemand, der sagt, früher war alles besser, aber daran muss ich mich noch gewöhnen. Werdenhier demnächst computergesteuerte Laser-Götter im schwebenden Lotussitz oder auf Streitwagen den Verkehr regeln? Werden Neontiger die Leuchtpalmen als Kratzbäume benutzen? Wird das gesamte Personal des Paradieses auf diese Weise auferstehen? Ist das die Vision? Der Mensch hat’s genommen, der Mensch gibt’s wieder zurück.
    Das sind wichtige Fragen, aber vor Ort werden langsam auch andere Fragen

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