Shooting Stars (German Edition)
denen sich der Stress der Fahrgäste festhakt, an denen sie ihre Angst davor, den Zug zu verpassen oder versehentlich in den falschen Zug einzusteigen, beruhigen. Das Zugpersonal gibt ihnen die Sicherheit, dass sie den ihnen zustehenden Sitzplatz finden werden, im Zweifelsfall verweisen sie jemanden von den reservierten Sitzen und sie tragen Sorge dafür, dass möglichst wenige Fahrgäste einen der vielen Anschlusszüge in einem der vielen Bahnhöfe verpassen.
Ich gehe dem Schaffner hinterher und er weist mir einen Platz in der ersten Klasse zu. Ich werde die zwei Sitze wahrscheinlich für mich alleine haben, sagt er, weil ich der erste Fahrgast sei, der heute bereit war den Aufschlag zu bezahlen. Und der zweite Platz sei nicht reserviert.
Er lächelt, während er das sagt lächelt er und nimmt mir sogar meinen Koffer ab, legt ihn vorsichtig in die Gepäckablage über meinem Sitz und fordert mich auf, mich zu setzen.
In Ruhe tippt er ein paar Informationen in seinen kleinen Verkaufsautomaten und während er kassiert, frage ich mich, wie viel Trinkgeld er für sein Entgegenkommen von mir erwartet. Wie viel ich ihm geben soll.
Ich entschließe mich, ihm zehn Euro in die Hand zu drücken. Und er ist ehrlich überrascht. Obwohl ich fest damit gerechnet habe, dass seine Freundlichkeit auch eine Taktik war, sehe ich, dass er tatsächlich nicht an Trinkgeld gedacht hat. Oder wenn er doch daran gedacht hat, dann war das nicht der Hauptgrund seiner Freundlichkeit.
Und genau dafür, für diese nicht berechnende Freundlichkeit, würde ich ihm am liebsten gleich noch einmal zehn Euro zustecken. Aber ich lasse es bleiben. Mir fällt kein Satz ein, mit dem ich diese neuerliche Geste rechtfertigen könnte. Kein Grund dafür, meiner Freude über sein Verhalten mit einer doppelt so hohen Geldsumme Ausdruck zu verleihen.
Der Schaffner wechselt noch ein paar Worte mit mir und als er sich schon umgedreht hat, um wieder zu gehen, sehe ich auf meinen Koffer. Und denke, dass ich mir nichts anmerken lassen darf, dass ich mich selbst davon überzeugen muss, es seien bloß ein paar saubere Hemden, ein Paar Schuhe und andere Wäscheteile in ihm. Ich muss die Bedeutung dieses Koffers vor mir selbst herunterspielen, um nicht in Versuchung zu kommen, immer wieder während der Fahrt, während andere ein- und aussteigen oder nachdem ich auf der Toilette war, hinzusehen und mich zu vergewissern, dass er noch da ist. Er und mit ihm meine P12, die ich vielleicht unvorsichtigerweise einfach in meinen Koffer gelegt habe. Aber jetzt, denke ich, jetzt ist es ohnehin zu spät, sie herauszunehmen. Und in einem Halfter unter meinem Sakko wäre sie auch nicht besser aufgehoben, denke ich. Weil man sie dort sehen könnte. Und weil man sie in meinem Koffer gar nicht erst vermutet.
Trotzdem bin ich nicht sicher, wie sie reagieren werden. Weiß ich nicht, ob nicht plötzlich eine Gruppe Polizisten durch den Zug patroullieren wird, um dem erhöhten Bedrohungspotenzial, von dem die Bundeskanzlerin gestern Abend in den Nachrichten gesprochen hat, Rechnung zu tragen.
Aber ich habe mich darauf eingelassen und ich werde dieser Situation begegnen. Ich werde sie meistern, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte, werde ich standhalten.
Der Zug hat gerade im Dortmunder Bahnhof angehalten und ich beobachte zwei Polizisten auf dem Bahnsteig. Unser Zug, das hat mir der Schaffner erzählt, wird hier 30 bis 40 Minuten außerplanmäßig halten. Wegen eines technischen Problems auf der Strecke, hat er gesagt. Und vielleicht, denke ich, ist dieses technische Problem ja auch eine sogenannte Erkrankung eines Fahrgastes. Eine früher sogenannte Erkrankung eines Fahrgastes, denn vielleicht hat man mittlerweile ja auch daraus schon technische Probleme gemacht, weil man nicht kommunizieren will, wenn sich wieder einmal jemand mit Hilfe eines Zuges das Leben genommen hat.
Erkrankung eines Fahrgastes ist wenigstens noch halb ehrlich, denke ich, und erinnere mich daran, dass ich mich einmal mit einem jungen Schaffner unterhalten habe. Auf dem Weg von Zürich nach Berlin, in einem Nachtzug. Weil ich nicht schlafen konnte, war ich um etwa halb eins in der Nacht aufgestanden, um auf die Toilette zu gehen. Der Schaffner saß auf seinem Platz und sah mich an, beinahe ohne mich dabei wahrzunehmen.
Sie würden jetzt bestimmt gerne schlafen und ich darf zwar, kann aber nicht
, sagte ich damals zu ihm. Und er schüttelte den Kopf, meinte,
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