Shooting Stars (German Edition)
geschlafen habe er tagsüber genug, in Zürich. Weil ihm die Stadt ohnehin zu teuer sei, um irgendwo einen Kaffee zu trinken oder in einem der Restaurants an der Limmat zu essen. Aber Rotwein, meinte er, Rotwein helfe beim Einschlafen und im Gegensatz zu Bier müsse man, wenn man Rotwein trinkt, in der Nacht nicht auf die Toilette.
Dann geben Sie mir einen Rotwein und wenn Sie möchten, trinken Sie doch auch etwas mit
, lud ich ihn damals ein, weil ich gespannt war, was er erzählen würde. Weil ich ein paar Geschichten aus seinem Leben im Zug hören wollte. Aus einem Leben, das ich mir so nicht vorstellen konnte, von dem ich nicht wusste, nach welchen Regeln es ablief.
Und im Lauf dieses Gesprächs kamen wir natürlich auch auf Verspätungen zu sprechen und auf die Gründe dafür. Hochwasser, erzählte er mir, einmal war er in einem Zug Richtung Wien unterwegs gewesen, und weil ein Hochwasser in halb Süddeutschland Bahnstrecken überflutet, unterspült, mit Murenabgängen und durch entwurzelte Bäume blockiert hatte, hatte sein Zug 16 Stunden Verspätung eingefahren. 16 Stunden, mehr als die reguläre Fahrzeit, und er erzählte mir davon, wie schwer es ist, Fahrgäste zu überzeugen, dass man gegen Verspätungen nichts machen kann, dass es höhere Gewalt oder ungeplante Umstände sind, die einen Zug am Weiterfahren hindern und nicht er, aus einer komischen Schaffnerlaune heraus.
Und dann erzählte er mir von den Selbstmördern. Mit einem ernsten und gewichtigen Ausdruck im Gesicht verriet er mir, dass Züge, wenn sich jemand auf die Gleise vor den Zug geworfen hat, nur dann weiterfahren dürfen, wenn der Kopf des Opfers gefunden wurde. Wegen der Identifizierung, erzählte er, und dass er einmal vom Zugchef aufgefordert worden war, doch bei der Suche mitzuhelfen, gemeinsam mit den herbeigerufenen Rettungskräften und dem Rest des Zugpersonals nach dem Kopf eines Menschen zu suchen, der seiner Verzweiflung ein Ende gesetzt hatte.
Beinahe hätte ich gelacht damals. Wegen seiner ernsten Miene und der Gewichtigkeit, mit der er mir diese Geschichte auftischte. Weil er Anteilnahme oder Bestürzung erwartet hatte.
Statt geschockt zu reagieren, erzählte auch ich ihm eine Geschichte. Beschrieb ich ihm einen meiner Einsätze. Ich weiß nicht genau, warum ich das getan habe. Um ihn aus seiner weihevollen Ernsthaftigkeit herauszuholen vielleicht. Oder weil es der Moment war, in dem ich endlich reden konnte. Ich glaube, nein, wenn ich darüber nachdenke, weiß ich, dass er der einzige Zivilist war, dem ich bisher von einem meiner Einsätze erzählt habe.
Es war eine relativ unbedeutende und im Vergleich zu anderen sogar relativ harmlose Geschichte. Trotzdem hat sie ihm das Blut aus dem Gesicht getrieben.
Ich erzählte, wie Thomas und ich in Kum el Sabba, einem kleinen Dorf, ein paar Aufständische unter Beschuss genommen hatten und immer mehr in Bedrängnis geraten waren, weil sie uns entdeckt hatten und weil sie erstens in unsere Richtung liefen und zweitens, noch viel schlimmer, weil sie begonnen hatten, uns nicht nur mit ihren knatternden Kalaschnikows, sondern auch mit einem Mörser zu beschießen. Etwa 50 Meter hinter uns und ungefähr 30 bis 40 Meter vor uns waren schon Geschosse gelandet. Sie schießen sich so ein. Visieren ihre Ziele Schuss für Schuss an, ein Treffer vorne, einer hinten und der nächste dazwischen. Ich erinnere mich daran, wie sich der Schaffner aus seiner lümmelnden Haltung begeben hatte und immer steifer dazusitzen begann, während ich ihm erzählte, dass wir, dass Thomas und ich, bloß noch ein oder zwei ihrer Schüsse gehabt hätten, bevor sie uns getroffen hätten, und dass Thomas genau im richtigen Moment, nachdem keine zehn Meter hinter uns ein Geschoss detoniert war, die Stellung des Mörsers doch noch ausgemacht hatte, mir seine Anweisungen gab und dass ich, während ich die Zielperson anvisiert hatte, sehen konnte, dass der Soldat auf der anderen Seite bereits das nächste Geschoss in die Hand genommen hatte. Mitten in die Brust hatte ich ihn erwischt, damals. Er flog aus seiner Stellung heraus nach hinten und nur die Mörsergranate blieb durch ihre Trägheit für einen Sekundenbruchteil an Ort und Stelle. Sie schien für einen Moment, wie durch Zauberhand gehalten, in der Luft zu schweben und fiel dann zu Boden, ohne zu detonieren. Und die anderen, erzählte ich dem Schaffner, sprangen zu unserer Überraschung, obwohl sie so nah dran waren, uns tatsächlich zu treffen, obwohl ihr
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