Shotgun Lovesongs
ungefähr drei Sekunden fest die Augen, spitzte die Lippen und atmete tief aus.
Du schüttest deine ganze Liebe in ein Kind, all deine Hinwendung, deine Hoffnungen, all die Versprechen und Träume, die deine Vorfahren an dich vererbt haben, und du weißt es einfach nicht . Es ist anders als alles, was es sonst auf der Welt gibt. Außer vielleicht der Glaube. Aber ich bin kein religiöser Mensch. Wenn du in Aktien oder Rohstoffgüter investierst, dann kannst du deine Wette absichern, du kannst dein Geld in Dutzenden von unterschiedlichen Sachen anlegen, oder auch in Tausenden. Du kannst deine Hoffnungen und Ängste verteilen, diversifizieren, und sicher, es ist eine Lotterie, ein Glücksspiel, aber ich wusste immer, dass ich am Ende wieder etwas dabei herausbekommen würde. Dass ich irgendetwas zurückbekommen würde.
Zweimal im Jahr bekam ich Grußkarten von Harvey und Edith mit der Post. Einmal zu Weihnachten und das zweite Mal an Thomas’ Geburtstag, der zufälligerweise nur fünf Tage nach meinem war. Die Karten waren immer mit Harveys kräftiger, ordentlicher Schrift geschrieben. Und es stand nie viel drin. Dasselbe Farmergejammere, das ich oft von Henry oder den Giroux-Zwillingen zu hören bekam – nicht genug Regen, zu viel Regen, Verlust der Ernte, zu hohe Dieselpreise, eine teure Hüftprothese und so weiter.Manchmal schickte mir Harvey auch Fotos von der Farm, die ganz offensichtlich mit einer Wegwerfkamera aufgenommen worden waren, mit schlechter Bildqualität und vollkommen überbelichtet. Es waren Felder mit Setzlingen darauf zu sehen, endlose Reihen von zartem jungem Grün, oder ein purpurner Sonnenuntergang über einem Feld aus bleichen, vertrockneten Maispflanzen. Schnee, der bis zu den Fensterbänken ihres Hauses reichte, oder ein Kardinalsvogel, der sich aus ihrem Futterspender bediente. Es gab nie irgendwelche Erklärungen zu den Bildern, die er mir schickte, kein Muster, kein sich durchziehendes Thema. Einfach nur sein Leben. Ganz ähnliche Bilder, wie er sie vielleicht Thomas geschickt hatte, als er im Irak stationiert war, oder sogar, als er noch in den Staaten war, in irgendeinem Fort im feuchtwarmen Süden des Landes.
»Sag mir doch noch mal, wer diese Leute eigentlich sind?«, fragte Felicia mich manchmal, während sie die Adresse auf dem Umschlag der Karte betrachtete. »Woher kennst du sie noch mal?«
Wie sollte ich auch nur versuchen, das zu erklären? Dass ich einmal einen alten Mann getroffen hatte, an einer Tankstelle mitten im Nirgendwo, dass ich ihm meine Karte gegeben hatte und er mich dann Monate, Jahre später zusammen mit seiner Frau in Chicago besucht hatte? Dass ich ihrem toten Sohn ähnlich sah?
»Ach«, sagte ich dann. »Das sind nur alte Freunde der Familie.«
»Sollten wir sie denn dann nicht vielleicht zur Hochzeit einladen?«, fragte sie mich bei mehr als einer Gelegenheit.
»Nein. Sie wohnen weit weg, draußen in Illinois, an derGrenze zu Iowa. Harvey ist ein Farmer und reist nicht gerne. Ich möchte sie nicht damit belästigen. Und wir stehen uns eigentlich auch nicht besonders nahe.«
»Bist du sicher? Es sieht so aus, als würde ihnen wirklich etwas an dir liegen. Ich meine – sie schreiben dir öfter als deine eigenen Eltern.«
»Nein, glaub mir. Das ist schon okay so.«
Und dann, ein paar Monate später, kam ein Brief. Aber es war nicht Harveys Schrift auf dem Kuvert. Diese hier war weicher, eleganter, mit mehr Kurven und Schnörkeln und nicht so tief ins Papier eingedrückt. Und während ich vom Briefkasten zurück ins Haus ging, las ich, dass Harvey gestorben war. Dass er einen schlimmen Unfall mit einer der Farmmaschinen gehabt hatte. Dass Edith ihn dort draußen gefunden hatte, in einem seiner Felder, und es nichts mehr gab, was sie für ihn tun konnte, dass es keine Zeit mehr gab. Dass sie ihn jetzt auch verloren hatte.
Und ich dachte damals – wie ich es auch heute noch denke –, warum bloß hatte ich sie nicht zu unserer Hochzeit eingeladen? Von all den vielen Menschen – warum nicht diese beiden? Wer wäre stolzer auf mich gewesen? Wer hatte mir sonst so unerschütterlich seine Zeit geschenkt, so an mich geglaubt? Wer hatte mich sonst so wie einen Sohn geliebt? Und was hatte ich getan? Sie angerufen? Kein einziges Mal. Ihnen geschrieben? Vielleicht einmal im Jahr. Sie besucht? Nie.
Wie stolz wären sie auf mich gewesen? Auf Felicia?
Wie kann ich denn ein Vater werden? Wie kann man sich überhaupt auf mich verlassen? Was habe ich je anderes
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