Shotgun Lovesongs
beiden an, schloss die Augen und ließ mich heimfahren. Zu meinem Bett, meiner Frau und meinen Kindern.
...
Ich kann mich an den darauffolgenden Morgen noch ganz genau erinnern. Das Chaos in unserem Haus, Beths Eltern, die sich unten um die Kinder kümmerten, und der dröhnende Fernseher, in dem irgendwelche Zeichentrickserien liefen. Beth stand unter der Dusche und brauchte ein bisschen länger als üblich. Aus einem der Zimmer drang die Radioübertragung eines frühmorgendlichen Footballspiels. Ich stand vor dem Spiegel und band mir die Krawatte. Der Schlips hatte eigentlich meinem Vater gehört. Die Seide war an einigen Stellen etwas abgewetzt und auch das Design war ziemlich aus der Mode gekommen. Ich mochte an jenem Morgen das Gesicht nicht, das mir aus dem Spiegel entgegenschaute, meine Nase war von der vielen Sonne am Vortag ganz rot, an meinem Unterkiefer hatte ich einen Rasierbrand und die ersten schlaffen Anzeichen eines Doppelkinns machten sich bemerkbar. Beim Zuknöpfen der Hose zog ich den Bauch ein. Ich hätte wohl eigentlich einen neuen Anzug gebraucht, aber für so etwas hatten wir kein Geld. Ich band mir die Krawatte immer und immer wieder, aber jedes Mal wirkte die Seide am Ende fadenscheinig und der Knoten zu fest. Mein Haaransatz machte im Spiegel einen beinahe zaghaften Eindruck; als kröche er ängstlich vor meinen Augenbrauen davon, und plötzlich wurde ich ganz nervös bei dem Gedanken, Chloe kennenzulernen. Beth und ich waren zum Brunch bei Lee eingeladen, und danach würden wir zusammen zu Kips kleiner Farm hinausfahren. Lee hatte Chloe am frühen Morgen am Flughafen von Minneapolis abgeholt. Wir sollten auf dem Weg zu ihnen Ronny auflesen.
Beth wechselte an diesem Morgen fünf Mal die Garderobe, zog andere Schuhe an, andere Halsketten, andere Ohrringe. Ich verstand das gut. Hätte ich mehr als nur einenAnzug besessen, dann hätte ich dasselbe getan. Aber weil ich bloß diesen hatte, saß ich einfach nur auf einem ramponierten alten Stuhl in unserem Schlafzimmer und schaute ihr zu. Ich fand sie wunderschön. Ich konnte sehen, dass sie sich die Beine rasiert hatte; straff und geschmeidig wuchsen sie aus der sanften Umfassung ihrer hohen Schuhe. Sie verwuschelte sich die Haare und spitzte die Lippen im Spiegelbild.
»Und, was denkst du?«, fragte sie schließlich und drehte sich zu mir um.
Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Dort, in diesem Moment, begriff ich, dass wir auf dem Weg waren, älter zu werden, dass wir zusammen alt werden würden.
»Ich denke, dass du wunderschön bist«, sagte ich und küsste sie.
»He – pass auf den Lippenstift auf«, erwiderte sie und gab mir einen spielerischen Klaps, bevor sie mich wieder zu sich heranzog. Sie legte ihr Kinn auf meine Schulter und wir drehten uns in einem langsamen Tanz, dort, in unserem Schlafzimmer, mit dem verschlissenen Teppich unter unseren besten, abgewetzten Schuhen. »Ich liebe dich«, sagte sie, »obwohl du kein Rockstar bist.«
»Ich liebe dich«, sagte ich, »obwohl du kein Filmstar bist.«
Wir küssten uns wieder und hielten uns an den Händen, während wir die Treppe hinuntergingen. Es war gut genug, so wie wir gekleidet waren.
Die Kinder kamen zu uns gelaufen und umarmten uns zum Abschied. Beths Vater schüttelte mir die Hand und in diesem Augenblick fiel mir zum ersten Mal auf, dass die Haut am Ringfinger seiner linken Hand allmählich seinen Ehering zu überwuchern begann. Der Ring war zueinem Teil von ihm geworden, so wie ein Baum als Pfosten eines Zauns nach und nach den Stacheldraht in sich aufnimmt, der um seine Rinde gewickelt ist. Bei diesem Anblick fühlte ich mich plötzlich irgendwie glücklicher – weniger, ach, ich weiß nicht, weniger verunsichert. Ich wusste, dass Beth und ich es zusammen schaffen würden, egal was mit der Farm oder was auch sonst noch passieren mochte.
In der Stadt war die Hölle los. Die örtlichen Bed & Breakfasts und Motels waren ausgebucht und im VFW und den wenigen anderen Bars der Stadt wimmelte es vor Gästen. Sogar im Coffee Cup Café herrschte Hochbetrieb. Die zahlreichen Kunden knallten die Eingangstür hinter sich zu, während sie das Restaurant mit ihren Styroporbechern verließen. Auf der Hauptstraße drängelten sich Autos mit Nummernschildern aus anderen Bundesstaaten. Eddy hatte gehört, dass über fünfhundert Leute auf der Gästeliste standen. Aus Milwaukee war ein ganzer Lastwagen voller Bierfässer gekommen und noch ein zweiter mit den härteren alkoholischen
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