Shotgun Lovesongs
mir klar – auf eine ganz andere Weise als jemals zuvor –, wie wichtig Chloe und Lee tatsächlich waren, dass solche Leute herkamen, um ihnen ihre Reverenz zu erweisen, um sich mit ihnen sehen zu lassen.
Sie waren tatsächlich draußen auf der Terrasse. Henry trank einen Mojito und Lee hielt etwas in der Hand, daswie Cranberrysaft aussah. Er lächelte breit, als er uns kommen sah. Seine Augen wirkten müde, aber ansonsten sah er in seinem elegant geschneiderten Anzug, mit gebräuntem, frisch rasiertem Gesicht und kurzgeschnittenen Haaren sehr gut aus.
»He, Beth«, sagte er und umarmte mich.
»Lee«, sagte ich, »herzlichen Glückwunsch. Deine Verlobte sieht wirklich wunderschön aus.«
»Danke – und echt, danke, dass ihr hergekommen seid, Leute«, sagte er. »Es wäre auch nett gewesen, in Wisconsin in den Hafen der Ehe einzulaufen, aber Chloes Familie ist von hier, und deshalb, na ja.« Er neigte resigniert den Kopf.
»Warum zum Teufel entschuldigst du dich bei uns?«, fragte Henry fröhlich. »Auf diese Weise hatten wir einen Vorwand, die Kinder mal für ein paar Tage ihrem Schicksal zu überlassen. Mal nach New York zu kommen.«
Lee stellte schnell sein Glas ab. »Oh Mann! Ich hätte sie ja gerne dabeigehabt, aber wir haben entschieden, dass das eine Hochzeit ohne Kinder werden soll. Keine weinenden Babys in den hinteren Reihen und keine Eltern, die früh nach Hause müssen. Morgen Abend wird’s dann wohl echt zur Sache gehen.«
»Und wo ist die Kirche?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Keine Kirche. Ein Freund von Chloe wird uns das Eheversprechen abnehmen. Er hat sogar Theologie studiert, in Yale. Ein echt netter Kerl. Danach gibt’s was zu essen und später wird getanzt.«
Eine schnelle, schmerzlose Hoppla-hop-Hochzeitszeremonie hat durchaus ihren Reiz. Von Großtanten, Müttern und Großmüttern mal abgesehen, kommt doch niemand quer über den Kontinent geflogen, um irgendeinem langweiligen Ritual beizuwohnen. Niemand kauft ein teuresHochzeitsgeschenk, nur um einen abgedroschenen Sermon zur Institution der Ehe über sich ergehen zu lassen oder zuzuhören, wie eine zweitklassige Sängerin ein Solo kreischt. Um zu hören, wie ein entfernter Cousin, der kaum lesen kann, einen Bibelvers oder ein Neruda-Gedicht verhunzt. Die Leute kommen, um Freunde und Familie zu treffen, sich zu betrinken, ordentlich das Tanzbein zu schwingen und dabei ein geistesgestörtes Huhn nachzuahmen. Um zu hören, wie der Bruder der Braut eine weitschweifige und größtenteils unanständige Trauzeugenrede hält. Um zu sehen, wie sich die Brautjungfer durch zahllose herzzerreißende Kindheitserinnerungen und Insiderwitze schluchzt. Ich kann nicht behaupten, dass ich da anders wäre.
Aber um ehrlich zu sein, je älter ich werde, desto mehr mache ich mir etwas aus der Zeremonie. Denn der Grund, warum man überhaupt jemanden zu seiner Hochzeit einlädt, ist doch der, dass man seine Freunde und seine Familie bei diesem Ritual dabeihaben möchte. Wenn die Zeremonie selbst keine Bedeutung hätte, dann würden doch alle einfach nur eine Party feiern und Ringe austauschen und fertig. An dem Tag, an dem Henry und ich geheiratet haben, war ich furchtbar nervös. Ich hatte schreckliche Angst, auf dem Weg zum Altar über meine Schleppe zu stolpern, während des Gottesdienstes ohnmächtig zu werden, mich beim Ehegelübde zu verhaspeln, in Tränen auszubrechen, den Eindruck zu erwecken, als wäre ich schlecht im Küssen oder – noch schlimmer – als wäre ich viel zu erfahren darin. Ich machte mir fast in die Hose vor Angst. Und als der Pfarrer das Gelübde sprach, damit ich es nachsprechen konnte, da dachte ich über diese Worte nach, über jedes einzelne, wog sie in Gedanken ab, wie etwas sehrKostbares. Ich wusste, dass ich meinte, was ich sagte, als ich sie aussprach. Dass ich genau in diesem Moment, schon während ich diese Worte artikulierte, während mein Mund sie hervorstieß, erahnen konnte, welche Herausforderungen unsere Ehe ohne Zweifel in der Zukunft an uns stellen würde. Ich wusste, wir würden vermutlich niemals besonders viel Geld haben. Ich wusste, dass Henry immer viel mehr arbeiten würde, als mir lieb war. Dass wir wahrscheinlich nie aus Wisconsin wegziehen würden, niemals, es nicht einmal ausprobieren würden, in einer Stadt wie Minneapolis, Chicago oder einfach nur Duluth zu leben. Dass ich, wenn ich Henry heiratete, auch die hundert Hektar Mais, Sojabohnen, Luzernen und die Kühe heiraten würde, die
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