Shotgun Lovesongs
»Aber wer weiß? Vielleicht habe ich ja auch einfach nur den Verstand verloren.«
»Wie nimmst du denn das Ganze auf?«
»Ziemlich primitiv – nur mit einem Computer und einem Mikrofon«, sagte er. »Heutzutage geht das viel leichter als früher. Man nennt das Guerilla Recording.«
Am liebsten hätte ich mich neben ihn auf einen Heuballen gesetzt und ihn geküsst, mich an ihm gewärmt und den Dingen ihren Lauf gelassen, mochten sie sich entwickeln, wie sie wollten. Aber das tat ich nicht und ich sprach auchnicht über die Küsse, die wir noch vor kurzem ausgetauscht hatten, oder darüber, warum er mir überhaupt diesen Brief geschrieben hatte oder was er mir eigentlich sagen wollte, aber allem Anschein nach nicht sagen konnte. Ich setzte mich einfach nur nah an den Ofen und wir unterhielten uns. Hier und da unterbrachen wir unser Gespräch auch, damit er mir ein paar Takte eines Liedes vorsingen konnte, an dem er gerade arbeitete. Zuletzt schaute er hoch, mit einem düsteren Ausdruck im Gesicht.
»Ich wollte nicht als Versager zurückkommen«, sagte er. »Verstehst du das? Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, außer es immer weiter zu probieren. Es gibt ja sonst nichts, was ich kann.«
Ich glaube, ich bin wie die meisten Menschen auf der Welt vollkommen untalentiert. Ich kann nicht singen, nicht tanzen, nicht malen oder schnell laufen und kann auch keine Gedichte schreiben. Und wie ich da saß und ihm zuhörte, so wie ich es auch noch Jahre später tat, wenn er Henry und mich in unserem Haus besuchte und an unserem Esstisch saß, da fragte ich mich: Wie mag das wohl für ihn sein? Was sieht er? Wo kommt seine ganze Musik her?
Wir ließen das Feuer herunterbrennen, machten das Licht aus und gingen wieder in die Nacht hinaus. Im Innern des Hauses umarmte er mich, küsste mich auf die Wange und sagte: »Ich bin froh, dass du heute Abend zu mir rausgekommen bist.«
»Ich auch«, sagte ich, obwohl ich in diesem Augenblick verwirrt war, sehr viel verwirrter, als ich es gewesen war, bevor ich Bea Cathers altes Farmhaus betrat. Ich hatte keine Ahnung, wo wir eigentlich standen, Lee und ich, ganz zu schweigen davon, was ich Henry erzählen sollte, wenn ich es ihm überhaupt erzählte.
»Gute Nacht«, sagte er, und dann schaute ich ihm zu, wie er die Treppe hochstieg, mit gekrümmten Schultern, als sei er ein alter Farmer ohne Frau und Familie, der sich nun schlafen legte.
Ich schlich durch das dunkle Haus, strich zur Orientierung mit den Fingern an den Wänden entlang, bewegte mich in Richtung des Schlafzimmers, das Bea für mich zurechtgemacht hatte. Ich stieg wie ich war mit meiner Kleidung ins Bett; ich hatte Angst, mich auszuziehen, Angst einzuschlafen, und der Gedanke, dass irgendwo über mir Lee auf seiner Matratze lag und vielleicht an mich dachte, elektrisierte mich. Ich lag lange so da, Stunden vielleicht – ich hatte keine Uhr und wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Schließlich stand ich auf und tastete mich zur Haustür zurück. Ich blieb auf der Fußmatte mit dem Aufdruck WILLKOMMEN stehen, neben der meine Stiefel auf einem alten Webteppich lagen, und gerade als ich mich vorbeugte, um sie aufzuheben, hörte ich, wie über mir am oberen Ende der Treppe eine Stufe knarrte. Ich schaute hoch.
Es war Lee. Er hatte schwarze gepunktete Boxershorts an, sein Oberkörper war nackt und bleich, seine langen Arme mit Tattoos übersät und seine Haare standen in tausend verschiedenen Richtungen von seinem Kopf ab. Er schaute mich mit einem traurigen Lächeln im Gesicht an. Ich ging die Treppe hinauf und nahm seine Hand.
Am nächsten Morgen verließ ich das Haus, noch bevor die Dämmerung anbrach. Ich fuhr sehr vorsichtig und wartete auf den Sonnenaufgang. Kurz hinter einer schmalen Brücke, die einen namenlosen Bach überspannte, hielt ich den Wagen an und stand im Leerlauf da. Ich schaute zu, wie die Sonne aufging, violett und orange und rosa.
Wieder zurück bei meinen Eltern schlich ich mich leise ins Haus, zog die Stiefel aus und kroch ins Bett.
...
Wir glitten in einem Mercedes-Benz durch die Wolkenkratzerschluchten. Das Fahrzeug hatte kühle Ledersitze und getönte Fensterscheiben, die den Stadtlärm ausblendeten und im Innern eine behagliche Stille schufen. Ich erwischte mich zweimal dabei, wie ich die Fenster öffnete und schloss, nur um den Kontrast zu erleben, der zwischen der Welt dort draußen und der hier drinnen bestand. Wir rollten durch die Stadt, während der Fahrer uns mit ebenso
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