Shotgun Lovesongs
ich nur sehr selten tue. Aber jetzt tat ich es. Ich setzte mich hin. Ich starrte auf meine Hände. Ich fühlte mich lebendig, jede Faser in mir vibrierte, jedes Atom war voller Energie, das Blut rauschte durch meine Adern.
Ich lebe hier, ich habe mich entschlossen, hier zu leben, weil mir hier das Leben real vorkommt. Authentisch, echt – ich weiß nicht –, so, als ob man wirklich etwas damit anfangen könnte. Vielleicht hat ja jeder dieses Gefühl, wenn er zu Hause ist – vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht. Wie dachte Chloe über New York? Es stimmt schon – diese Stadt pulsiert, jeden Tag, den ganzen Tag über, die Zeit verschmilzt wie in einem Hochofen: lange Nächte und frühe Morgen, Tagesanbruch und Mittagszeit, träge Nachmittage und wieder lange Nächte und wieder früh aufstehen, alles wieder von vorne, und die Menschen verlassen nie die Insel, sie wohnen siebzig, achtzig, neunzig Jahre in dem einen winzigen Apartment. Sie lieben den Gedanken, eingeschlossen zu sein, auf dieser Insel festzusitzen.
Aber ich habe New York nie geliebt, und auch keine andere Stadt. Keine einzige der Städte, in denen ich auf meinen Tourneen aufgetreten bin. Hier, wo ich jetzt bin, entfaltet sich das Leben in jeder Jahreszeit anders. Hier spult sich die Zeit unendlich langsam ab, wird jeder Augenblick sorgfältig verteilt, als sei er ein köstlicher Nachtisch, den wir uns auf der Zunge zergehen lassen – Hochzeiten, Geburten, Schulabschlüsse, Eröffnungsfeiern, Beerdigungen. Die meisten Dinge bleiben gleich. Dort ist Henry inmitten seiner Felder, winkt mir mit seiner Baseballkappe von seinem Traktor aus zu. Dort ist Ronny, auf der Hauptstraße, kickt mit seinen Cowboystiefeln, die Hände in den Hosentaschen, einen Stein vor sich her. Dort ist Beth, sitzt mit den Kindern vor der Eisdiele und wischt ihnen mit einer feuchten Serviette die Eiscreme aus den Gesichtern. Dort ist Kip, steht vor der Mühle und telefoniert mit seinem Mobiltelefon, wedelt mit den Händen wie ein exzentrischerDirigent, dem sein Orchester abhandengekommen ist. Dort ist Eddy vor dem Postamt und kauft von einem alten Vietnamveteranen eine rote Mohnblume aus Plastik, sein weißes kurzärmeliges Hemd unter seinem riesigen Bauch straff in die Hose gestopft, so dass sein Wanst wie ein heftiger Windstoß wirkt, der einen Spinnaker vor sich aufbauscht.
Und auf den Feldern, in den Wäldern ist es das Gleiche: die Präriebrände im Frühling, die Reifenbrände, die Streumaschinen voller Kuhmist, die langsam über die Felder fahren und sie mit dem wunderbar reichhaltigen Dünger besprühen, Kanadakraniche und Schreikraniche am Himmel, so groß wie B-52-Bomber, und all die anderen unzähligen Vögel, die heimkehren wie zurückgesandte Post und die den Nachthimmel mit so viel Lärm erfüllen, als feierten sie eine Willkommensparty. Und dann kommt der Sommer und überall breitet sich das Grün in solcher Überfülle aus, dass man denkt, der Winter sei womöglich gar nicht geschehen und würde auch nie wiederkehren. Lange Tage, träge Tage. Im VFW-Posten 66 die Neonreklame für irgendwelche Biersorten und lauter offene Fenster und Fliegentüren und süße, rauchige Dunkelheit. Und Kips Mühle, die lange Schatten über die ganze Stadt wirft. Feldtauben und Trauertauben, die in der kühlen taufeuchten Morgendämmerung dort oben sitzen und gurren und im blauen Himmel auseinanderschwirren, sobald der erste morgendliche Verkehr eintrifft – die Farmer, die kommen, um ihren verbrühten Tankstellenkaffee zu trinken und abgestandene Donuts zu essen, sich über die Politik zu beschweren, über die Steuern, die Rohstoffpreise und was ihnen sonst noch alles einfällt. Spätabendliche Softballspiele der ländlichen Sportclubs, auf Plätzen, die meistens hinter irgendeinerKneipe an irgendeiner Kreuzung liegen, wo die Neonlichter Millionen von Insekten und Nachtfaltern anlocken und die Frauen und Mütter und Tanten auf den Tribünen sitzen, irgendwas in ihre Handys tippen, sich die Fingernägel feilen und so tun, als würden sie das Spielgeschehen auf dem Feld mit Interesse verfolgen. Und in den Hinterhöfen flattert mit lautem Knallen die Wäsche an den Leinen, im kühler werdenden Wind, der schon das Kommen des Herbstes ankündigt, dieser so eleganten Jahreszeit, der Zeit, in der man die Schals und Jacken wieder aus dem Schrank holt, in der man die Ernte einfährt und die Fenster in der Nacht geöffnet lässt, der Zeit, in der es sich am besten schlafen lässt.
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