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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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mit nur noch drei Rädern vor sich her, deralles zu enthalten schien, was er auf der Welt besaß. Ich sah ihm zu, wie er sich damit abmühte, den Wagen den Bordstein hinaufzuschieben. Es wurde grün.
    »Ich vermisse den Winter«, sagte Henry.
    »Ich vermisse den Herbst«, sagte ich.

Ich lenkte den Umzugswagen an den Rand der Uecker Road, zu der Mündung meiner Auffahrt, wo sich der Schotter wie ein davongerolltes Murmelspiel über den Asphalt verstreut hatte. Meine Post war während der letzten Monate nach New York weitergeleitet worden, aber trotzdem lagen neben meinem Briefkasten ein paar Wurfsendungen und Briefumschläge im Dreck und zwischen dem Unkraut. Ich bückte mich und sammelte das durchnässte Papier auf. Die Briefe lagen überall verstreut und viele waren mit der Hand adressiert – Fanpost . Ich kann immer schon von weitem an der Schrift erkennen, von wem sie stammt. Rosafarbene Tinte, ein Alphabet aus lauter putzigen Luftblasen, unzählige Ausrufezeichen: ein dreizehnjähriges Mädchen mit gebrochenem Herzen. Große, wütende Buchstaben, gelbes DIN-A4-Papier, falsch geschriebene Wörter, die durchgestrichen sind: ein Fleischverpacker oder Rohrleger Anfang, Mitte zwanzig, der grade eine harte Zeit durchmacht. Manche der Briefe hatte der Wind bis in den Graben geweht. Meine Beine waren vom Fahren müde, aber während ich in den Straßengraben und in das Schilfgras hinunterstieg, entkrampfte sich wenigstens mein Rückgrat wieder etwas, und das fühlte sich gut an. Meine Redwing-Stiefel waren sofort durchnässt und meine Socken klitschnass. Ich hatte keine Ahnung, wann dieseBriefe angekommen waren, wie lange sie schon im Straßengraben lagen, während der Regen die Tinte aus ihnen herauswusch, aber ich konnte sie dort unmöglich liegen lassen, wie eine Handvoll Müll – als wären sie mir egal. Denn sie waren mir nicht egal. Ich freute mich sehr über sie. Besonders in diesem Moment, bei meiner Heimkehr. Das war ganz so, als hätte jemand ein riesiges Plakat mit der Aufschrift WILLKOMMEN ZU HAUSE über die Auffahrt gespannt. Obwohl natürlich niemand wusste, dass ich heimkehrte. Außerdem hatte ich nun etwas zu lesen, jemanden, an den ich schreiben konnte, wenn mir die Einsamkeit zu viel wurde.
    Als ich sicher war, dass ich alle in der Gegend verteilten Briefe bis zum letzten eingesammelt hatte, legte ich das nasse Bündel auf die Sitzbank des Trucks und ging dann zu der dicken Stahlkette, die ich quer über meine Einfahrt gespannt hatte. Es war gerade mal sechs Monate her, dass ich auf jeder Seite der Auffahrt zwei Löcher gegraben und zwei Pfähle in den felsigen Boden gerammt hatte. Dann hatte ich Zement in den Hohlraum um die Pfähle gegossen und, nachdem er hart geworden war, die Kette an den Pfählen befestigt, das Ganze mit einem Vorhängeschloss versehen und war dann in ein Flugzeug von Minneapolis nach New York gestiegen. Ich hatte noch nie so etwas gemacht, hatte nie zuvor mich selbst oder mein Haus vor der Außenwelt abgeschottet, niemals eine Notwendigkeit dafür gesehen, trotz der paar Journalisten, Autogrammjäger oder Groupies, die hier und da mein Grundstück unbefugt betreten hatten. Ich weiß noch, dass ich dachte: Diese Kette ist etwas vollkommen Neues, eine Art Zeichen, dass mir Little Wing und Wisconsin nicht mehr so am Herzen liegen. Das hatte mir irgendwie Angst gemacht. Aber das war im Frühlinggewesen, vor meiner Hochzeit, als ich offiziell noch alleinstehend war. Und jetzt war ich wohl auch wieder alleinstehend, auch wenn wir formal – juristisch – gesehen nur getrennt lebten. Wir würden uns scheiden lassen, Chloe und ich. Ich trug den Ehering zwar noch am Finger, aber mit jedem Tag, der verging, fühlte sich das lächerlicher an. Während der ganzen Fahrt von New York nach Hause hatte ich meinen linken Arm aus dem Fenster hängen lassen, damit sich meine Haut in der Nachtluft zusammenzog und der Ring vielleicht irgendwo unterwegs verlorenging. Aber er klammerte sich fest, umschloss meinen Finger noch genauso eng wie vorher. Eine Art Liebessouvenir, dachte ich, und drehte ihn unablässig um sich selbst.
    Ich steckte den Schlüssel in das silberne Vorhängeschloss und es sprang mit einem Ruck auf. Vielleicht sollte ich den Ring ja an irgendeinen Fan schicken , dachte ich, das wäre doch ’ne tolle Idee, was? Ich legte die Kette zu einem glitzernden Haufen am Rand der Auffahrt zusammen, ging zurück zum Umzugswagen, ließ den Motor an und lenkte das schwerfällige Fahrzeug in

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