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Shotgun Lovesongs

Shotgun Lovesongs

Titel: Shotgun Lovesongs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nickolas Butler
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Wenn in den Feldern alles darauf wartet, wieder neu bepflanzt zu werden; die blassgelben Maispflanzen, so trocken wie Papier, und dann wird die Erde wieder umgepflügt und man lässt sie bis zum nächsten Jahr ruhen. Die Oktoberluft, die so voller Maisstaub ist, dass jeder Sonnenuntergang wie eine kitschige Postkarte wirkt und so unglaubliche Farben entstehen, als hätte es gerade irgendwo eine Atombombenexplosion gegeben. Und dann der Schnee. Schnee genug, um die ganze Erde zu bedecken. Um uns zu bedecken. Unsere Welt, die unter dieser weißen Decke schlafen und ruhen und ihre Wunden heilen kann. Die Wälder, die im Oktober noch ihr prächtiges Konfetti wie ein Halluzinogen in die Welt gestreut hatten, stehen nun auf einmal ganz anders da, in sich gekehrt, dürr, ihrer Blätter beraubt, gleichmütig. Sie wirken wie alte Menschen, die wissen, dass ihre Zeit nun bald gekommen ist. Winter: Man macht es wie die Bären und bleibt im Bett, hält Winterschlaf, wird immer blasser, liest russische Romane oder spielt mit entfernten Verwandten oder weggezogenen Schulfreunden Briefschach. Winter:Man zieht sich ein Paar Schlittschuhe an und schnitzt Muster in einen zugefrorenen See, als hätte man zwei Messer an den Füßen, oder man schlägt einen vereisten Puck mit einem langen Hockeyschläger durch die Gegend, bleibt schwitzend stehen, um Atem zu holen, bei Temperaturen unterm Nullpunkt. Winter.
    Wenn man hier seine Haustür offen stehen lässt, kommt ein Kojote hereinspaziert. Aber es hätte auch genauso gut ein Bär sein können. Einmal saßen Henry und ich unten am Bach und kifften. Und während wir den Joint hin- und herwandern ließen, landete ein Adler im Geäst einer riesigen Pyramidenpappel, die uns gegenüberstand. Und wir sahen ihn und freuten uns über seine Gesellschaft. Dann landete eine Krähe auf einem großen Steinbrocken in der Mitte des Bachs, so dass man hätte meinen können, der Stein sei ihre Kanzel. Und wir freuten uns auch über ihre Gesellschaft. Und schließlich setzte sich noch eine verirrte Möwe, die sich so weit, wie man es nur konnte, von jeglichem Meer entfernt hatte, auf den Wipfel einer großen Weißkiefer. Drei vollkommen unterschiedliche Vögel. Sie bildeten eine Art Quorum, das sich in regelmäßigem Abstand zueinander am Bach verteilt hatte. Wir warteten, beobachteten, schwiegen, während die Vögel miteinander zu sprechen begannen. Erst gab der Adler ein hohes pfeifendes Geräusch von sich, dann erklang das schroffe Krächzen der Krähe und schließlich folgte der heisere Schrei der Möwe. So ging das hin und her. Sie verließen für keine Sekunde ihre Plätze, unterbrachen einander nicht ein einziges Mal, sprachen immer abwechselnd – wie konnte das irgendetwas anderes als eine Unterhaltung gewesen sein? Wir sahen und hörten ihnen zu. Ich kann unmöglich sagen, wie viel Zeit verging, bis sich schließlich die Möwe aus der Weißkiefer erhob,drei träge Pirouetten am Himmel beschrieb und dann die Oberfläche des Flusses kurz mit einer Flügelspitze streifte, bevor sie hinter den Baumwipfeln verschwand. Wie eine Gymnastiktänzerin, die prahlerisch ihre Bänder durch die Luft wirbelt.
    Die Wölfe, Bären, Elche, Rotluchse und Berglöwen. Die Gänse in ihren gleichförmigen Geschwadern und die Enten und die wilden Seetaucher. Aber die Rehe sind mir immer noch die liebsten. Diese Weide, die ich von meinem Haus aus sehen kann, über die sie mit ihren Familien ziehen, wie Nomaden oder Flüchtlinge oder auch einfach nur Einheimische – ich werde es nie erfahren. Ich habe mich oft in ihre Schlafmulden gelegt und bin dort eingeschlummert – an jenen Stellen auf der Wiese, an denen sie das Gras flachgedrückt und es mit ihren Körpern gewärmt hatten, eingeschlafen waren und davon geträumt hatten, ja, von was hatten sie wohl geträumt? Es gibt Menschen in Wisconsin, für die sie fast so eine Art Ungeziefer sind, eine Plage, Kreaturen, die nichts als Unannehmlichkeiten bereiten, eine Spezies, die täglich Massenselbstmord begeht, indem sie sich in den entgegenkommenden Verkehr wirft, die die Ernte beschädigt, die Gärten ruiniert und deren Bestand sich so vermehrt hat, dass es schon einer Seuche gleichkommt. Aber ich habe das nie so gesehen. Wir sind der Grund dafür, dass es so viele Rehe gibt. Es ist nicht ihre Schuld. Vielleicht gibt es ja auch zu viele von uns: zu viele Menschen, die Auto fahren, Mais essen, zu viele Häuser bauen und die Wölfe und Kojoten verdrängen. Ich liebe die

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