Shotgun Lovesongs
Henry oder Ronny. Eddy war in der Stadt, das wusste ich, und die Giroux-Zwillinge ebenfalls. Aber ich hatte mich mit niemandem getroffen. Ich fuhr nie in die Stadt, obwohl sie nur etwa fünf Meilen entfernt war. Bea hatte die Gewohnheit,jeden Tag nach Little Wing zu fahren, und so konnte ich ihr einfach eine Liste und ein wenig Geld geben, wenn ich etwas brauchte. Falls ich Bier oder sonstigen Alkohol wollte, steckte ich Joaquin ein paar Dollar zu und er brachte mir das Gewünschte, und Garcia hatte so seine Quellen, über die er mir jederzeit Gras besorgen konnte.
Der Klang meiner Musik hatte viel von diesem Hühnerstall: ein kalter Ort, den es nach etwas Wärme dürstet. Die Lieder fingen immer sehr langsam an und tauten dann auf, begannen zu fließen. Und falls der Holzofen mitten im Stück knallte, mitten in einer Aufnahme, dann war das eben so. Wenn der Wind heulend aus den Dakota-Staaten herunterfegte, aus Alberta oder Saskatchewan, und die losen Fensterscheiben durchrüttelte, dann war das eben auch so. Das Ganze erinnerte mich an alte Jazzaufnahmen – John Coltrane, den man hören kann, wie er um eine Zigarette bittet, Miles Davis, der dem Produzenten gerade etwas zumurmelt, oder diese Live-Aufnahmen aus dem Village Vanguard – klingende Gläser, klirrende Eiswürfel im Sektkühler, das Klappern hoher Absätze, während sie die Treppen in den Club im Greenwich Village hinuntersteigen.
Manche von den Musikern, die ich auf meinen Touren treffe, besonders die ganz jungen, die, die jünger sind als ich, fragen mich: »Wie hast du es geschafft, dorthin zu kommen, wo du jetzt stehst? Was müssen wir tun, um noch diesen einen Schritt weiterzukommen?« Ich weiß dann nie genau, was ich antworten soll. Ich glaube, meistens sage ich ihnen einfach nur, sie sollen weitermachen, immer nur weitermachen. Dranbleiben. Aber wenn ich in einem solchen Moment betrunken wäre und so richtig mein Herz ausschütten wollte, dann würde ich wohl Folgendes sagen:
Sing so, als hättest du kein Publikum, sing, als wüsstest du nicht, was ein Kritiker ist, sing über deine Heimatstadt, deine Abschlussfeier, sing über Rehe, über die Jahreszeiten, über deine Mutter, sing über Kettensägen und Tauwetter, über Flüsse und Wälder, sing über die Ebenen der Prärie. Aber egal was du tust, fang sehr früh morgens mit dem Singen an, und sei es auch nur, um dich warm zu halten. Und wenn du an einem warmen, malerischen Ort wohnst, dann zieh nach Wisconsin. Kauf dir einen Holzofen und verbring eine ganze Woche damit, Holz zu hacken. Bei mir hat es funktioniert.
Ich ging mit dem Brief die Kiesauffahrt vor Beas Haus hinunter, jeder Schritt schwerer als der vorherige. Der Briefkasten und die Landstraße erschienen mir wie ein furchtbares schwarzes Loch, das diesen Brief in die Welt hinaussaugen würde, hinaus zu Beth. Ich stand mehrere Minuten neben dem Briefkasten, bis ich den Brief endlich hineinschob und die Klappe wieder schloss. Einen Augenblick später öffnete ich sie wieder und steckte den Brief in die Hosentasche. Und dann wünschte ich mich selbst zur Hölle und schob ihn wieder in den Kasten. Gleich darauf nahm ich ihn wieder heraus. Ich schaute die Straße hinauf und hinunter, hielt nach Autofahrern Ausschau, Passanten, Zeugen. Natürlich war da niemand. Vielleicht schaute mir ja Bea vom Verandafenster aus mit dem Fernglas zu, das sie zum Vogelbeobachten benutzte, und dachte: bekloppter Musiker . Schließlich legte ich den Brief zurück in den Kasten, ging etwa zwanzig Schritte die Straße hoch, setzte mich hin und schnipste mit den Fingern kleine Kieselsteine durch die Gegend. Es war ein relativ warmer Januartag und über den vereinzelten Inseln aus Schnee lag ein freundlicher Nebel.
Nach einer Weile kam der Postbote in einem alten Minivan, bei dem das Lenkrad auf der rechten Seite war. Wir bekamen nicht besonders viel Post, aber ich hatte die Aufgabe übernommen, täglich zum Briefkasten zu gehen und die wenigen Sendungen zu holen, die für uns gekommen waren. Meistens waren es Rechnungen. Rabattgutscheine. Wurfsendungen mit Werbung für Autos oder Immobilien. Niemand wusste, wo ich war, also rechnete ich auch nicht damit, Post zu bekommen. Manchmal kam ein Brief aus Mexiko und ich genoss es, die ausländischen Briefmarken zu berühren und mir den Umschlag an die Nase zu halten, um herauszufinden, ob ich wohl irgendetwas Exotisches riechen konnte. Doch das gelang mir nie. Der Postbote hatte unseren Briefkasten vollgestopft
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