Shotgun Lovesongs
und schloss die Klappe. Dann hielt er mit seinem Minivan neben mir.
»Der Brief, der da drin war«, fragte er, »haben Sie den adressiert?«
Ich nickte.
»Ich kenne Beth«, sagte der Postbote. »Nettes Mädel.« Er sah mich misstrauisch an. »Kenne ich Sie?«
»Wahrscheinlich nicht«, log ich. »Ich bin nur auf der Durchreise.«
Wenn es auch nur einen einzigen Nachteil gibt, den eine Kleinstadt hat, dann der, dass man sich nicht vor seinen Nachbarn verstecken kann. Sie wissen immer, wo sie dich finden können. Und meistens finden sie dich dann auch wirklich. Weil sie dich gerade brauchen, dein Werkzeug oder deinen Wagen. Wir sind eben aufeinander angewiesen. Ich erkannte den Postboten wieder, wenn auch nur sehr vage. Obwohl ich schon seit Jahren nicht mehr in Little Wing wohnte, kannte ich sein Gesicht. Er gönnte sich öfter im VFW einen Drink, am frühen Abend, am liebsten einenCocktail namens Rusty Nail. Manchmal spielte er auch Cribbage an der Bar, mit einem anderen Postboten.
»Sie wissen aber schon, dass das hier die Adresse ihrer Eltern ist, oder?«, fragte er. »Und nicht ihre eigene.«
Ich nickte, stand auf und klopfte mir den feuchten Kies vom Hosenboden. »Also vielen Dank noch mal«, sagte ich.
»Das nächste Mal benutzen Sie aber besser einen Kuli«, sagte er. »Das hier kann ich ja kaum lesen.«
Ich wollte ihr einfach nur nahe sein, denke ich. Ich sehnte mich nach der Gesellschaft einer Frau. Ich wollte mit einer Frau im Bett liegen, ihre Haare riechen, ihren Bauch berühren, aber mehr als alles andere wollte ich mit jemandem reden. War der Brief, den ich an Beth geschrieben hatte, ehrlich gewesen? Ich glaube schon. Ich glaube, er war zutiefst aufrichtig, obwohl man das nach so vielen Jahren nur noch schwer sagen kann. Wir haben miteinander geschlafen, das lässt sich nicht leugnen, und ich weigere mich, das zu bereuen. Ich werde mich für den Rest meines Lebens an diese Nacht erinnern. Mittlerweile habe ich mit Hunderten von Frauen geschlafen. Vielleicht waren es auch mehr als tausend. Ich habe wahrscheinlich mit mehr Frauen im Bett gelegen, als Little Wing Einwohner hat. Aber jene Nacht mit Beth, das ist die eine Nacht, an die ich mich erinnere. Die eine Nacht, die mich verwirrt, die mich quält, die mein Blut rascher fließen lässt.
Was bin ich nur für ein Freund? Mit der Frau meines besten Freundes zu schlafen? Klar, sie waren damals noch nicht verheiratet – sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht einmal zusammen – aber trotzdem. Ich habe all diese Jahre ein Geheimnis bewahrt. Und ich nehme an, Beth ebenfalls. Heißt das, wir schämen uns dessen, was wir getan haben?Oder heißt es, wir wollen es ganz für uns allein behalten, wie einen unerklärlichen Traum, einen Traum, zu dem du, wenn du aufwachst, wohlig wieder zurückkehren möchtest, einen Traum, in dem du eine Ewigkeit verweilen könntest, während dein Körper altert, dein Bett sich erschöpft und diejenigen, die du geliebt hast, immer mehr verblassen und irgendwo an den Rändern deiner Wirklichkeit einen leisen Tod sterben.
An dem Morgen, nachdem wir miteinander geschlafen hatten, war Beth schon vor der Dämmerung verschwunden. Ich konnte die Mexikaner in der Küche hören, wie sie Eier aufschlugen, Tortillas brieten und die Bohnen in einem Topf zum Kochen brachten. Bea schlurfte in ihren Hausschuhen durch die Gegend und pfiff »Don’t Sit Under The Apple Tree«. In einer Ecke murmelte das Radio vor sich hin, während es aus dem Toaster daneben rauchte, weil gerade ein größerer Krümel von Beas Bananenbrot darin verbrannte.
»Buenos Dias«, sagte ich zu niemandem Bestimmten. Ich war froh zu sehen, dass schon jemand Kaffee gekocht hatte. Ich goss mir eine Tasse ein und blies in den Dampf. »Buenos«, antworteten meine Mitbewohner, während Bea mich von oben bis unten musterte, als sei ich ein Landstreicher.
»Ihre Schwester, hmmm?«, sagte sie.
Garcia kicherte, schaufelte sich Rührei in den Mund, verschluckte sich, hustete, nahm einen Schluck Orangensaft und setzte sich aufrecht hin, um wieder zu Atem zu kommen.
»Sie hätte doch mit uns frühstücken können«, sagte Bea. »Ihre Schwester . Wir hätten sie bestimmt gerne dabeigehabt.«
»Ihr Flug ging sehr früh«, sagte ich.
»Ist da nicht jemand mitten in der Nacht aufgestanden?«, fragte Joaquin. »Ich hätte schwören können, dass ich jemanden an der Haustür gehört habe.«
»Wisst ihr«, sagte ich, »ich glaube, ich nehme heute mal mein Frühstück und meinen
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