Sibirische Erziehung
Verwaltung ließ die Gewalttaten unter den Minderjährigen als Unfall durchgehen. Es gab jede Menge, die »im Schlaf aus dem Bett gefallen« waren, viele von ihnen starben, einige waren für immer behindert.
Niemand wagte es, die Wahrheit zu erzählen.
Wir Sibirer lehnten jegliche Art von sexueller Perversion ebenso ab wie grundlose Übergriffe und Gewalttaten, darum fingen wir jedes Mal, wenn einer von uns zufällig mitbekam, wie die Kleinen Diebe jemanden quälten, eine handfeste Schlägerei an, die manchmal böse endete.
Der Herrscher über all die armen Teufel in unserer Zelle war ein richtig sadistischer Bastard namens »der Bulgare«. Er gehörte zu den Kleinen Dieben, war Sohn eines Kriminellen der Tschornaja mast und hatte einen älteren Bruder, der Blatnoj war. Der Bulgare war eher schmächtig, mehr oder weniger wie ich, nur dass ich Sport machte und mich viel bewegte und dadurch eine gewisse Ausdauer entwickelt hatte, während er rauchte und sich nie bewegte und wie eine kleine Mumie wirkte. Seine Haut hatte eine seltsame Farbe, als hätte er Gelbsucht, weswegen er bei uns Sibirern auch nicht der Bulgare hieß, sondern »der Gelbe«.
Als der Bulgare in unsere Zelle kam, fingen die Kleinen Diebe an, Legenden über ihn zu erzählen, um den Mythos zu nähren. Eine Woche lang drehte sich jedes Gespräch um ihn, der Bulgare hier und der Bulgare dort, und alles auf der Welt hatte auf die eine oder andere Art mit seiner sagenumwobenen Gestalt zu tun. Wir Sibirer sagten:
»Bestimmt noch so ein Bastard, hoffen wir, dass er keinen Ärger macht ...«
Zwei Wochen nach seiner Ankunft geriet der Bulgare mit den Armeniern aneinander, weil er »Schwarzärsche« zu ihnen gesagt hatte (so nannten die nationalistischen Russen alle, die aus dem Kaukasus stammten und eine dunklere Haut hatten). Er schrie, dass er seine Beziehungen zur Verbrecherwelt nutzen würde, um sie alle umbringen zu lassen. Er war ein Clown, ein verzogenes Kind, der offensichtlich noch nichts gesehen hatte außer dem Ausblick, der sich ihm vom Schoß seines Vaters aus bot, den er, bis er im Gefängnis landete, noch nie verlassen hatte.
Die Armenier erzählten uns von dem Vorfall, und wir sicherten ihnen unsere volle Unterstützung im Falle einer Auseinandersetzung zu und versprachen ihnen auch außerhalb des Gefängnisses den Beistand der sibirischen Gemeinschaft. Wir wussten, dass die Situation zwischen uns und den Kleinen Dieben früher oder später in einen Krieg münden würde, wir warteten nur auf den geeigneten Zeitpunkt – und vor allem auf einen Anlass: Sie mussten einen Fehler machen, denn wenn wir aufs Ganze gehen und die Unterstützung unserer Alten bekommen wollten, mussten wir ihnen einen triftigen Grund liefern, der auch vor dem Gesetz der sibirischen Verbrecher Bestand hatte. Auch das unterschied uns: Die Kleinen Diebe konnten sich mit allen anlegen, die nicht ihrer Gemeinschaft angehörten, gegen Verhaltensregeln verstoßen oder noch viel Schlimmeres tun und wurden immer von den Leuten der Tschornaja mast verteidigt. Auf deren Protektion konnten sie sich verlassen, und deshalb machten sie vor nichts halt. Wir hingegen hatten sehr strenge Gesetze: Jeder Fehler, jede Beleidigung einer Person, die unsere Gemeinschaft als ehrbar eingestuft hatte, wurde unweigerlich bestraft.Keiner, weder Verwandte noch Freunde, dachte im Traum daran, jemanden zu schützen, der gegen das Gesetz verstoßen hatte.
Also lauerten wir darauf, dass der Bulgare und seine Bande von Päderasten (so nannten wir sie wegen ihrer Neigung zu homosexuellen Gewalttaten) ihre hässliche Fratze zeigen und irgendeinen Streit vom Zaun brechen würden, den wir dann als Vorwand nutzen konnten, um sie wie rohes Fleisch durch den Wolf zu drehen. Die Bastarde sollten unsere Erwartungen noch übertreffen.
Eines Tages hatte sich unsere Familie um die »Eiche« herum versammelt (so nannte man den gemauerten Tisch einer Zelle). Es gab die Abmachung, dass die Familien oder »Brigaden« (wie man die Gruppen nannte, die in irgendeiner Weise von der Tschornaja mast inspiriert waren) zu einer bestimmten Uhrzeit für eine festgelegte Dauer um die Eiche zusammenkommen konnten. Das war in jeder Zelle anders, aber gewöhnlich traf man sich dort zum Essen, zu den Mahlzeiten. Die Stärksten setzten sich zuerst, aßen, unterhielten sich eine Weile und machten dann den Tisch für die anderen frei, die schwächer waren als sie selbst, aber stärker als die, die nach ihnen kamen. Die meisten
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