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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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seines Wegs. Keiner fragte den anderen nach seiner Adresse, wir waren Teil einer Vergangenheit, an die man sich nicht gern erinnert.

Ksjuscha

    K sjuscha war ein sehr schönes Mädchen mit typisch russischen Gesichtszügen. Sie war groß, blond, gut gebaut, mit Sommersprossen im Gesicht und tiefblauen Augen.
    Sie war genauso alt wie ich und lebte bei einer guten Frau, die wir Tante Anfisa nannten.

    Von klein auf war ich von behinderten Erwachsenen und Kindern umgeben wie meinem guten Freund Boris, dem Lokomotivführer, dessen tragisches Ende ich bereits erzählt habe. In unserem Viertel lebten viele Geisteskranke, und der Zuzug nach Transnistrien ließ erst nach, als in den Neunzigerjahren das Gesetz abgeschafft wurde, das es verbot, Geisteskranke bei sich im Haus zu haben.
    Heute wird mir klar, dass ich dank der sibirischen Kultur eine tiefverwurzelte Akzeptanz für jene Menschen entwickelt habe, die außerhalb der Gesellschaft, in die ich hineingeboren wurde, als abnormal, anomal, nicht normal oder wie auch immer bezeichnet werden. Für mich war das nie abnorm.
    Ich wuchs mit Geisteskranken auf und lernte viel von ihnen. So kam ich zu dem Schluss, dass sie eine natürliche Reinheit in sich tragen, etwas, das man nur spürt, wenn man sich völlig von der irdischen Last befreit hat.

    Ksjuscha war eine besondere Freundin.
    Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich sie zum ersten Mal sah. Mit ihrem etwas scheuen, aber gleichzeitig sicheren und entschlossenen Schritt kam sie auf unser Haus zu: ein wildes Tier, das durch den Wald trippelt. Ich saß mit Großvater auf der Bank. Als sie näher kam,betrachtete mein Großvater sie eine Weile und sagte dann, so als spräche er mit jemandem, den ich nicht sehen konnte:
    »Danke, dass du diesen Engel zu uns Sündern gesandt hast.«
    Ich wusste, was er meinte: Das kleine Mädchen war eine »Gottgewollte«, wie man bei uns sagt, ein Kind, das man andernorts einfach verrückt genannt hätte.
    Ksjuscha litt von Geburt an unter einer Art Autismus, sie war nie anders gewesen.
    »Sie hat für uns alle gelitten, so wie unser Herr Jesus Christus«, sagte mein Großvater zu mir, und ich war seiner Meinung – nicht, weil ich die Gründe für das Leiden Unseres Herrn verstand, sondern einfach, weil ich gelernt hatte, dass man in meiner Familie immer, auch in den Fällen, wo es über das intellektuelle Verständnis hinausging, einer Meinung mit dem Großvater sein musste, um zu überleben und zu gedeihen, sonst kam man nicht voran.

    Wie viele andere Gottgewollte auch war Ksjuscha oft bei uns zu Hause: Sie kam und ging, wie sie wollte, manchmal blieb sie bis spät in den Abend, bis Tante Anfisa sie abholen kam.
    Ksjuscha war mitteilsam, manchmal die reinste Plaudertasche. Sie erzählte gerne die jüngsten Neuigkeiten, die sie im Viertel aufgeschnappt hatte.
    Sie war von Kriminellen erzogen worden und wusste daher, dass die Köter die Bösen waren und die, die in unserem Viertel wohnten, die Guten, und dass wir alle eine große Familie waren.
    Dadurch umgab sie eine schützende Atmosphäre, in der sie sich frei fühlte.
    Auch später, als Jugendliche, kam sie ganz ungezwungen in unser Haus, und ohne irgendwen um Erlaubnis zu bitten, begann sie etwas zu kochen, auf das sie gerade Lusthatte, oder sie ging in den Garten, um meiner Tante zu helfen, oder sie sah meiner Mama beim Stricken zu.
    Oft stiegen wir zusammen aufs Dach, wo Großvater seine Tauben hielt. Sie mochte Tauben sehr, wenn sie sie herumtrippeln und fressen sah, lachte sie und streckte die Hände aus, als wollte sie sie alle berühren.
    Unter Großvaters Anleitung ließen wir sie fliegen. Er nahm eine kleine Taube mit blassen Farben und spärlichem Gefieder und warf sie in die Luft. Sie stieg auf, immer höher hinauf, und als sie nur noch ein kleines Pünktchen am Himmel war, gab mein Großvater uns ein schönes großes Männchen in die Hand, mit dichtem, glänzendem Gefieder, ein wahres Prachtstück. Auf ein Zeichen meines Großvaters warfen wir den Täuberich in die Luft, und er flog auf die Taube zu, schlug heftig mit den Flügeln, was sich anhörte wie Händeklatschen, und vollführte Kapriolen, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ksjuscha lachte, und die eigentliche Attraktion in diesem Augenblick war sie.
    Sie ahmte gern die Gesten und Reden meines Großvaters nach. Wenn sie bei ihm einen schönen Täuberich sah, den er gerade neu erstanden hatte, dann legte sie ganz genauso wie Großvater Boris die Hände auf die Brust

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