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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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irgendwo in der Ferne ein Holzbrett bräche. Aber es war kein Holz: es war die Nase des Bulgaren. Und er lag am Boden, besinnungslos.
    Filat betrachtete ihn kurz, dann verpasste er ihm einen Fußtritt ins Gesicht, dann noch einen, noch einen und noch einen. Jedes Mal flog der Kopf des Bulgaren so weit nach hinten, dass es aussah, als säße er gar nicht mehr auf der Wirbelsäule, als wären der Schädel und der Rest des Skeletts voneinander getrennt, der Hals schien bloß ein dünner Faden, aus Gummi.
    An alle gewandt sagte Filat:
    »Euch reicht das Wichsen nicht mehr? Ihr wollt nicht warten, bis ihr draußen seid, um Sex mit Mädchen zu haben? Mögt ihr Ärsche, seid ihr alle zu Päderasten geworden, zu Kinderfickern?«
    Das letzte Wort löste ein erstauntes Raunen auf den Pritschen aus: Eine Gruppe von Personen zu beleidigen ist ein grober Fehler, ein Verstoß gegen das kriminelle Gesetz. Aber Filat war schlau: Er hatte seine Beleidigung als Frage formuliert, und nach unserem Gesetz ist in solchen Situationen die angedeutete Beleidigung einer ganzen Gruppe durchaus erlaubt, vor allem, wenn zuvor die eigene Mutter beschimpft worden ist.
    Ohne etwas hinzuzufügen, setzte Filat einen Fuß auf die Genitalien des Bulgaren, die an seinem reglosen Körper traurig zusammengeschrumpft waren, und begann sie mit aller Kraft zu quetschen. Dann stieß er einen fürchterlichen Schrei aus, sprang wie ein Wahnsinniger auf denBulgaren und hüpfte auf dessen Bauch herum, bis ein fürchterliches Kracks zu hören war. Keiner kannte sich in Anatomie aus, aber das war mir klar: Der Beckenknochen war gebrochen.
    Die Kleinen Diebe waren völlig verängstigt und standen einfach nur stumm da. Filat sagte zu ihnen:
    »Ich gebe euch eine Minute, die Ski zu wachsen. Wenn dann noch einer von euch in diesem Haus ist, wird es ihm genauso ergehen ...«
    Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als die Kleinen Diebe von ihren Pritschen heruntersprangen, sich gegen die Tür warfen, gegen das Eisen trommelten und brüllten:
    »Wärter! Hilfe! Sie bringen uns um! Verlegung! Schnell, wir wollen verlegt werden!«
    Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür, und die vom Disziplinarkommando kamen herein, mit Schlagstöcken bewaffnet. Sie schafften die beiden Verletzten weg, schleiften sie wie Müllsäcke fort und hinterließen eine lange Blutspur. Dann stießen sie die Kleinen Diebe vor sich her, zur Tür hinaus.

    In der darauffolgenden Woche kam ein Brief von draußen. Darin stand, dass der Bulgare in der Krankenabteilung gestorben war und dass sein Bruder bei den Sibirern vorstellig geworden war und Genugtuung verlangt hatte, aber sie hatten ihn abblitzen lassen. Daraufhin drohte er mit Vergeltung, und da brachten die Sibirer ihn um, fuhren ihn einfach mit dem Auto über den Haufen. Er hatte noch versucht, vor seinen Mördern zu fliehen, aber vergebens. Neben der Leiche hinterließ man, um jeden Zweifel auszuschließen, einen sibirischen Gürtel.So fand der Krieg ein Ende, keiner wollte mehr Rache, alle verhielten sich brav und ruhig. Ein paar Monate danach kamen erneut Kleine Diebe in unsere Zelle, aber die erlaubten sich uns gegenüber keine Fehler mehr.
    Neun Monate verbrachte ich dort, in dieser Zelle, in der sibirischen Familie. Nach neun Monaten kam ich wegen guter Führung frei, drei Monate vor der Zeit. Bevor ich ging, verabschiedete ich mich von den Jungen, wir wünschten uns alles Gute, wie es die Tradition verlangt.
    Als ich draußen war, träumte ich noch lange Zeit vom Gefängnis, von den Jungen, von dem Leben dort. Oft erwachte ich mit dem seltsamen Gefühl, noch in der Zelle zu sein. Wenn mir dann klar wurde, dass ich zu Hause war, war ich natürlich froh, aber ich verspürte auch ein rätselhaftes Heimweh, ein gewisses Bedauern, das mir noch lange Zeit im Herzen blieb. Der Gedanke, keinen meiner sibirischen Freunde mehr in der Nähe zu haben, war schlimm. Ganz allmählich nahm ich mein altes Leben wieder auf, und die Gesichter jener Jungen verblassten.
    Von vielen hörte ich nie wieder etwas. Jahre später traf ich eines Tages in Moskau Kerja den Jakuten, der mir von dem einen oder anderen berichtete, aber er verkehrte selbst nicht mehr in diesen Kreisen, er war mittlerweile Leibwächter eines reichen Geschäftsmanns und hatte nicht vor, ins kriminelle Leben zurückzukehren.
    Er machte einen guten Eindruck auf mich, wir unterhielten uns eine Weile, erinnerten uns an die Zeiten unserer sibirischen Familie, dann ging jeder

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