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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Häftlinge kamen erst gar nicht an den Tisch, sie aßen auf den Pritschen, weil sie ihr Essen sonst nicht geschafft hätten. An der Eiche zu essen war ein Privileg, es unterstrich die Macht der Gruppe, zu der man gehörte. In unserer Zelle waren wir die ersten, die an der Eiche aßen, zusammen mit den Armeniern und den Weißrussen. An dem Tisch hatten nicht mehr als vierzig Personen Platz, aber wir rückten zusammen und saßen zu sechzig da. Das taten wir, um den anderen zu zeigen, dass unsere Allianz das Sagen hatte. Für die Kleinen Diebe in der Zelle war das schwer zu schlucken, sie fühlten sich zurückgesetzt undkonnten nichts dagegen tun. Zudem machten sich die Kleinen Diebe aus den anderen Zellen deswegen ständig über sie lustig. Sich mit uns anzulegen, wäre Selbstmord gewesen, darum erfanden sie eines Tages eine Ausrede, um nicht mehr an der Eiche zu essen: Sie sagten, der Tisch wäre verseucht, jemand hätte ihn mit dem Putzlappen für den Boden gereinigt, weshalb ihre Regeln ihnen verböten, ihn auch nur mit den Fingerspitzen anzufassen. Das war natürlich eine Lüge, eine Geschichte, die sie erfunden hatten, um irgendwie das Gesicht zu wahren.
    An jenem Tag aßen wir also zu Mittag, die Armenier hatten ein Stück Käse mit zur Eiche gebracht, das einer von ihnen gerade mit einem Paket von zu Hause geschickt bekommen hatte. Nachdem wir es in kleine Würfel geschnitten hatten, aßen wir genüsslich: ein Geschmack, der aus der Freiheit kam, ein guter Duft, der nach zu Hause roch, nach dem Leben, nach dem wir uns alle sehnten.
    Plötzlich hörten wir einen Aufschrei, ich saß mit dem Gesicht zur Tür, darum begriff ich nicht gleich, was vor sich ging, aber ein paar meiner sibirischen Brüder in der Nähe der Pritschen waren aufgesprungen und riefen zornig:
    »Ehrbare! Während wir essen, was der Herr uns geschickt hat, damit wir leben, reinigen diese Elenden einen Abfluss!«
    »Den Abfluss reinigen« bedeutete sodomisieren. Eine üble Sache, schon an sich, klar, aber nicht nur das: Schon oft hatten wir keine Wahl gehabt und über den homosexuellen Wahn der Kleinen Diebe hinwegsehen müssen, auch wenn wir sie dafür verachteten, aber diesmal war es einfach unmöglich. Geschlechtsverkehr zu haben, während im gleichen Raum, in der Zelle – die in der Verbrechersprache »Zuhause« heißt – Leute essen oder die Bibel lesen oder beten, das war ein grober Verstoß gegen das kriminelle Gesetz.
    Wir standen auf und liefen zur Ecke der Kleinen Diebe. Sie hielten irgendeinen armen Teufel auf der Pritsche fest, drückten ihm den Hals mit einem Handtuch zu − so fest, dass das Gesicht schon ganz rot geworden war und er verzweifelt nach Luft rang – und schrien ihn an, dass sie, wenn er nicht stillhielte, eben nicht seinen lebenden, sondern seinen toten Arsch ficken würden.
    Filat der Weiße packte einen von ihnen am Hals – Filat war sehr stark, aber herzlos, wie man bei euch sagt, er hatte ein böses Herz, wie man in Sibirien sagt (was nicht ganz dasselbe ist): Er hatte kein Mitleid mit seinen Feinden – und begann mit den Fäusten auf ihn einzutrommeln, und seine Fäuste waren wie Stahlkugeln. Nach wenigen Augenblicken verlor der andere das Bewusstsein, sein Gesicht war rot wie ein Steak. Filats Hände waren voller Blut.
    Von den Pritschen der Kleinen Diebe kamen Beleidigungen und Racheschwüre, damit waren sie ja immer sehr freizügig.
    Filat ging zu dem, der gerade den Jungen vergewaltigen wollte und noch mit heruntergelassener Unterhose dastand. Wir waren alle in Unterhosen, in dieser höllischen Hitze, wo der Schweiß in Strömen floss, trugen auch wir nur Unterhosen, aber wir waren bereit, diese Bastarde zu Brei zu schlagen.
    Filat packte den Vergewaltiger am Arm und begann, ihn immer wieder gegen den Eckpfosten der Pritsche zu stoßen. Der andere fing an zu brüllen:
    »Ich bin der Bulgare, du hast die Hand gegen den Bulgaren erhoben, ihr seid alle Zeugen! Der hier ist ein toter Mann, ein toter Mann! Sagt es meinem Bruder, sie werden seine ganze Familie umbringen!«
    Er kreischte wie die rostige Pfeife eines besoffenen Landbüttels. Keiner nahm seine Worte ernst.
    Filat lockerte den Griff, und der Bulgare fiel taumelndzu Boden. Er rappelte sich auf, und als er wieder stand, sagte er:
    »Deinen Namen, Arschgesicht, sag mir deinen Namen, und noch heute Abend wird mein Bruder deiner Mutter ...« Bei dem Wort Mutter fing er sich einen gewaltigen Faustschlag ein. Ich hörte ein seltsames Geräusch, als ob

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