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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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leben wolle, sagte der Mann, müsse sie verschwinden. Er riet ihr, nach Transnistrien zu gehen, in die Stadt Bender: Kriminellenland, wohin er die richtigen Verbindungen hatte und wo niemand sie finden und ihr etwas antun konnte.
    Noch in derselben Nacht machte sich Anfisa mit einer Tasche voller Geld und Lebensmittel, die Kleine auf dem Arm, auf den Weg nach Transnistrien. Später erfuhr sie, dass der Vater der Kleinen auf der Flucht in den Kaukasus bei einer Schießerei mit der Polizei getötet worden war.
    Anfisa kannte nicht einmal den Namen des Mädchens, in dem ganzen Durcheinander hatte der Mann vergessen, ihr zu sagen, wie seine Tochter hieß. Sie beschloss, sie nach der Schutzheiligen der Eltern zu nennen, der heiligen Xenia: »Ksjuscha« eben, wie wir sie liebevoll nannten.

    Anfisa merkte sofort, dass Ksjuscha anders war als andere Kinder, aber das hinderte sie nicht daran, stolz auf sie zu sein: Die beiden hatten eine wundervolle Beziehung, sie waren eine richtige Familie.
    Ksjuscha war immer auf eigene Faust unterwegs, wohin, wusste nur sie, und überall fand sie offene Türen und Leute, die sie gern hatten.
    Manchmal trat ihr Autismus deutlicher zutage: Dann blieb sie einfach stehen und rührte sich eine Zeitlang nicht, sah in die Ferne, so als konzentriere sie sich auf etwas, das dort war, weit weg. In diesen Momenten konntenichts und niemand sie erschüttern oder wieder zu sich bringen. Unversehens tauchte sie dann wieder aus diesem Zustand auf und machte da weiter, wo sie zuvor aufgehört hatte.
    In unserem Viertel wohnte ein alter Arzt, der eine Theorie über Ksjuscha und ihre Absencen hatte.
    Er war ein besonderer Arzt, einer, der die Literatur und das Leben liebte. Er lieh mir viele Bücher, vor allem amerikanische Autoren, die in der Sowjetunion verboten waren, aber auch unzensierte Übersetzungen europäischer Klassiker wie zum Beispiel Dante.
    Zu Stalins Zeiten war er im Lager gewesen, weil er in seiner Wohnung eine jüdische Familie versteckt hatte. Juden galten in jenen Jahren als Volksfeinde, und er wurde wegen Kollaboration verurteilt. Wie viele politische Gefangene jener Zeit hatte man ihn in ein Lager geschickt, in dem auch gewöhnliche Kriminelle einsaßen. Diese Kriminellen hassten die politischen Gefangenen. Doch schon im Zug auf dem Weg ins Lager hatte er sich bei den Gesetzlosen nützlich gemacht, als er einem bedeutenden Kriminellen, der von Wachsoldaten schwer misshandelt worden war, die gebrochenen Knochen richtete. Daraufhin war er offiziell zum Lepíla ernannt worden, zum Arzt der Kriminellen.
    Nach mehreren Jahren im Lager hatte er eine so enge Beziehung zur Gemeinschaft der Kriminellen entwickelt, dass er sich bei seiner Freilassung nicht mehr der bürgerlichen Welt zugehörig fühlte, obwohl er selbst kein Krimineller war. Darum hatte er beschlossen, auch weiterhin in der Verbrecherwelt zu leben, und war nach Transnistrien gekommen, in unser Viertel, wo er einen Freund hatte.
    Dieser Arzt war ein interessanter Mensch, komplex, mit vielen Facetten: ein Intellektueller, der sich dieFeinsinnigkeit und Feinheiten des Akademikers bewahrt hatte, aber eben auch ein Mann mit einer Vergangenheit als Sträfling, ein Freund der Kriminellen, deren Sprache er perfekt beherrschte und denen er sehr ähnlich geworden war.
    Ksjuscha, sagte er, dürfe man auf keinen Fall stören, wenn sie ihre Anfälle hatte, aber vor allem musste in dem Moment, da sie in die Wirklichkeit zurückkehrte, alles um sie herum so sein wie in dem Moment, als sie weggetreten war.
    Wir Jungen wussten also, dass man sie nicht berühren durfte, wenn sie in diesen Zustand kam. Wir wussten es und taten alles, um unsere Ksjuscha vor einem Trauma zu bewahren, aber wie das unter Jugendlichen oft passiert, befolgten wir die Ratschläge des Arztes manchmal auch zu gewissenhaft.
    Einmal machten wir eine Bootstour, drei von den Jungs und Ksjuscha, wir fuhren stromaufwärts, aber plötzlich ging der Motor aus. Wir begannen zu rudern, und nach einigen Minuten fiel mir auf, dass Ksjuscha verändert war, mit geradem Rücken und starrem Kopf saß sie da wie eine Statue und starrte ins Leere ... Und wir armen Idioten ruderten wie verrückt gegen den Strom, weil wir Angst hatten, dass Ksjuschas Gesundheit schlimmen Schaden nehmen würde, wenn sie wieder zu sich käme und die Landschaft um uns herum sich verändert hätte.
    Fast eine Stunde lang ruderten wir wie besessen, und obwohl wir uns abwechselten, waren wir total erledigt. Die

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