Sibirische Erziehung
und sagte in seinem singenden Tonfall:
»Ach, was für ein wundervoller Täuberich, der ist direkt von Gott zu uns herabgekommen!«
Großvater und ich prusteten los, weil sie die Art und Weise, wie Großvater gestikulierte, und auch die Eigenarten seiner sibirischen Aussprache so genau traf, und sie lachte mit uns, verstand, dass sie etwas Lustiges gemacht hatte.
Ksjuscha hatte keine Eltern, auch keine anderen Verwandten. Die Tante war nicht ihre echte Tante, sie ließ sich nurder Einfachheit halber so nennen. Tante Anfisa hatte eine Vergangenheit als Klawa oder Zentrjaschka oder Sacharnaja : Im Kriminellenjargon werden so weibliche Ex-Häftlinge genannt, die sich nach ihrer Freilassung mit Hilfe der Kriminellen niederlassen, eine normale Arbeit finden und so tun, als ob sie ein ehrliches Leben führen, um die Aufmerksamkeit der Polizei von sich abzulenken. Für Kriminelle, die gesucht werden oder auf der Flucht oder sonst wie in Schwierigkeiten sind, sind diese Frauen wie ein Stützpunkt in der Zivilgesellschaft, durch sie können sie mit ihren Freunden kommunizieren und jene Hilfe bekommen, für die sie eine saubere und unverdächtige Person als Mittler brauchen. Frauen wie sie sind in der Verbrecherwelt hochangesehen und betreiben oft nebenher kriminelle Dinge, machen kleinere Geschäfte oder verkaufen gestohlene Ware. Das kriminelle Gesetz verbietet ihnen zu heiraten: Sie sind mit der Verbrecherwelt verheiratet und müssen es auch bleiben. Die ehemalige Sowjetunion ist voll von diesen Frauen: Die Leute denken, sie hätten nicht geheiratet, weil sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit den Männern gemacht haben, aber das ist nicht der Grund. Sie leben an entlegenen Orten, außerhalb der Innenstädte, in ruhigen Vierteln. In ihren Wohnungen finden sich keine Spuren der Welt, an die sie fest und endgültig gebunden sind. Das einzig sichtbare Zeichen ihrer Identität mag eine verblasste Tätowierung an irgendeiner Stelle des Körpers sein.
Die Adressen dieser Frauen sind in keinem Verzeichnis zu finden, das würde auch nichts nützen, denn man muss von jemandem geschickt sein, von einem angesehen Kriminellen: Nie würden sie einem die Tür öffnen, wenn sie nicht vorher über das Kommen informiert worden sind oder wenn sie die Tätowierung auf dem Arm des Besuchers nicht erkennen.Vor ihrem Umzug nach Transnistrien hatte Tante Anfisa in einer Kleinstadt in Zentralrussland gelebt und dann und wann in ihrer Wohnung Kriminelle beherbergt. Diese gingen, nachdem sie aus dem Knast entlassen worden waren, gleich zu ihr, aus mindestens zwei Gründen: um ein wenig Zeit mit einer Frau zu verbringen, die so zu lieben versteht, wie ein Krimineller das gewohnt ist, und um Starthilfe für das neue Leben zu erbitten, Freunde wiederzufinden und Informationen über die Verbrecherwelt zu erhalten.
Eines Abends kam ein Mann zu ihr, der schon seit längerem auf der Flucht vor der Polizei war. Seine Bande hatte eine Reihe von Sparkassen ausgeraubt, doch eines Tages war etwas schiefgelaufen, und den Polizisten war es gelungen, sie aufzuspüren. Es folgte eine wilde Flucht: Die Kriminellen waren abgehauen und hatten versucht, ihre Spuren zu verwischen, hatten die Beute unter sich aufgeteilt und sich dann getrennt. Jeder war seines Wegs gegangen, aber, soweit Anfisa wusste, gelang nur zweien von ihnen die Flucht, die anderen sechs wurden von der Polizei gestellt und getötet. Die Gruppe hatte mehr als dreißig Tote auf dem Gewissen, Polizisten und Angehörige der Hilfstruppen, weshalb es für die Polizei eine Frage des Stolzes war, keinen der Räuber entkommen zu lassen und ein Exempel zu statuieren: Sie wollten den Leuten die Lust nehmen, herumzulaufen und Köter umzubringen.
Der Gesuchte hatte ein wenige Monate altes Mädchen dabei, als er bei Anfisa auftauchte. Er erzählte, dass sein Plan, über den Kaukasus, die Türkei und Griechenland zu fliehen, gleich zu Beginn vereitelt worden war: Die Polizisten waren in seine Wohnung eingedrungen und hatten seine Frau getötet, die Mutter des kleinen Mädchens. Er aber war entkommen, und jetzt war er hier, bei Anfisa, zu der ein Freund ihn geschickt hatte.
Neben einer Tasche mit Geld, einigen Diamanten und drei Goldbarren ließ er Anfisa seine Tochter da und bat sie, sich um sie zu kümmern. Anfisa hatte sich bereit erklärt, nicht nur wegen des Geldes: Sie selbst konnte keine Kinder bekommen, und wie jede Frau mit Kinderwunsch konnte sie nicht widerstehen.
Wenn sie in Frieden
Weitere Kostenlose Bücher