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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Leute am Ufer beobachteten uns und versuchten zu ergründen, was die Schwachköpfe in dem Boot dort machten, mitten auf dem Fluss, genau da, wo die Strömung am stärksten war, und warum sie die ganze Zeit gegen den Strom ruderten, nur um sich nicht vom Fleck zu bewegen.
    Als Ksjuscha wieder zu sich kam, waren wir ganz schön erleichtert und fuhren gleich nach Hause zurück, obwohl sie zu gern noch ein Stückchen weitergefahren wäre ...
    Wir hatten unsere Ksjuscha wahnsinnig gern, sie war unser süßes kleines Schwesterchen.

    Als ich nach meiner zweiten Jugendstrafe aus dem Gefängnis kam, feierte ich eine ganze Woche lang. Dann verbrachte ich einen ganzen Tag in der Sauna, schlief in dem warmen, nach Fichtennadel duftenden Dampf ein, der mich an die Liege aus glühend heißem Holz klebte. Hinterher ging ich mit meinen Freunden zum Fischen.
    Wir nahmen vier Boote und lange Netze und fuhren flussaufwärts bis zu den Hügeln am Fuß des Gebirges. Dort war der Fluss breiter, manchmal war das gegenüberliegende Ufer nicht mehr zu sehen, und die Strömung war weniger stark: eine Ebene voller kleiner Seen zwischen wilden Wäldern und Feldern, der Wind trug einen Duft von Blumen und Kräutern heran, dass man sich wie im Paradies fühlte, wenn man ihn einatmete.
    Nachts fischten wir, tagsüber erholten wir uns, machten Feuer und kochten unsere Lieblingsgerichte: Fischsuppe und in der Erde gegarten Fisch. Wir redeten viel, ich erzählte, was ich im Gefängnis erlebt hatte, vom Knastalltag, von den Leuten, die ich kennengelernt hatte, und den interessanten Dingen, die sie mir erzählt hatten. Meine Freunde brachten mich auf den neuesten Stand, was in der Zwischenzeit bei uns im Viertel passiert war: wer fortgegangen, in den Knast gekommen, gestorben, krank geworden oder verschwunden war. Wer mit wem Krach hatte, was für Ärger es mit Leuten aus anderen Vierteln gegeben hatte, welche Schlägereien während meiner Abwesenheit angezettelt worden waren. Einer erzählte von seiner Gefängnisstrafe, ein anderer, was seineVerwandten diesbezüglich berichteten, die auch mal gesessen hatten. So verbrachten wir die Tage.
    Nach zehn Tagen kehrten wir nach Hause zurück.
    Ich vertäute mein Boot am Steg. Es war ein schöner Tag, es war warm, ein leichter Wind ging. Ich ließ alles im Boot: meinen Beutel mit Seife, Zahnbürste und -pasta, sogar meine Schlappen, ich wollte gehen ohne irgendetwas in den Händen. Ich fühlte mich gut, wie einer, der weiß, dass er wirklich frei ist.
    Ich setzte mir meine Acht Dreiecke schief auf, vergrub die Hände in den Taschen, wo die Rechte die Pika berührte, pflückte am Flussufer einen duftenden Grashalm und steckte ihn zwischen die Zähne.
    Barfuß und entspannt, in Gesellschaft meiner Freunde, machte ich mich auf den Weg nach Hause.
    Schon in der ersten Straße wurde uns klar, dass im Viertel etwas geschehen war: Die Leute kamen aus ihren Häusern, Frauen mit kleinen Kindern im Arm im Schlepptau ihrer Männer, eine endlose Karawane. Wir folgten der Menge, gingen schneller, erreichten das Ende der Karawane und fragten, was passiert sei. Tante Marfa, eine Frau mittleren Alters, die mit einem Freund meines Vaters verheiratet war, antwortete mit dem Gesicht einer zu Tode Erschrockenen beinahe panisch:
    »Ach Kinder, so ein Unglück, so ein Unglück ... Der Herr ist gekommen, um uns alle zu bestrafen ...«
    »Was ist denn passiert, Tante Marfa? Ist jemand gestorben?«, fragte Mel.
    Sie sah ihn nur voller Schmerz an und sagte etwas, das ich nie vergessen werde:
    »So schlecht ist es mir nicht mal gegangen, als mein Sohn im Gefängnis gestorben ist, das schwöre ich bei unserem Herrn Jesus Christus ...«
    Dann fing sie an zu weinen und murmelte etwas, dasman nicht verstand, nur drei Wörter schnappten wir auf, »Dreck einer Missgeburt«, was bei uns eine arge Beleidigung ist, weil sie nicht nur den so angesprochenen beleidigt, sondern auch die Mutter, die den Sibirern heilig ist.
    Wenn eine Frau und Mutter die Mutter eines anderen auf diese Weise beleidigt, so muss derjenige, gegen den sich die Beleidung richtet, etwas wirklich Schreckliches getan haben.
    Was war hier los? Wir kapierten gar nichts.
    Plötzlich begannen alle Frauen in der Schlange zu schreien und zu klagen und wie Tante Marfa wilde Flüche auszustoßen. Die Männer ließen sie schreien und bewahrten die Ruhe, wie es unter den Sibirern Gesetz war. Nur ihre zornerfüllten Blicke, ihre wütenden, zu schmalen Schlitzen verengten Augen

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