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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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zusammen, sie beschäftigten sich hauptsächlich mit Fischen und dem Diebstahl von Motorbooten. Sie kannten sich auf dem Fluss sehr gut aus, kannten die besonderen Stellen – wo das Wasser stand oder schneller floss, wo es Gegenströmungen gab, wo der Grund am tiefsten war – und wussten immer ganz genau, wo man zu welcher Jahreszeit Fische fand. Nie kehrten sie mit leerem Boot vom Fischen zurück, nie.
    Immer wenn wir auf Festen oder sonst zusammen tranken, fing Grab plötzlich an zu weinen, und das war ein sicheres Zeichen dafür, dass er bald versuchen würde, mit dem Leben abzuschließen: Dann nahmen wir ihm gemäß einer Regel, die von uns aufgestellt und von Grab (der im nüchternen Zustand trotz seiner psychischen Probleme einen großen Lebenswillen hatte) akzeptiert worden war, den Alkohol weg und banden ihn, wenn’s sein musste, sogar am Stuhl fest.

    Als Grab nun in der Signalpfeife versuchte, die Tränen aufzuhalten, und sich das Gesicht mit einem Taschentuch trocknete, gab Gagarin Kater ein Zeichen, der sofort die Wodkaflasche, die vor Grab stand, gegen eine Flasche Sowjet-Cola austauschte. Grab hörte auf zu weinen, trank die Flasche leer und gab einen langen, traurigen Rülpser von sich.
    Gagarin sprach mit unseren Fahrern, Makar der »Luchs« und Iwan das »Rad«. Sie waren knapp über zwanzig und hatten gerade eine fünfjährige Haftstrafe abgesessen. Sie waren unzertrennliche Freunde und hatten schon viele gemeinsame Raubzüge unternommen. Nach dem letztenwar Rad bei einer Schießerei mit der Polizei verwundet worden, und Luchs, der ihn nicht allein zurücklassen wollte, hatte sich auch verhaften lassen. Laut unserem Gesetz durften sie uns bei unserer Mission nicht helfen, mit den Kriminellen der verschiedenen Viertel der Stadt zu sprechen, und das war jammerschade: Es hätte uns sehr geholfen, denn wir waren alle minderjährig, und die Kriminellen, die die sibirische Gesinnung nicht teilten, sahen es als persönliche Beleidigung an, mit Minderjährigen zu verhandeln. Immerhin durften Luchs und Rad uns Ratschläge geben, wie wir vorgehen und mit Leuten verhandeln sollten, die andere Regeln als die unseren befolgten, wie wir uns die Eigenheiten unseres jeweiligen Gegenübers und der verschiedenen Gemeinschaften zunutze machen konnten. Dieser ständige Austausch zwischen uns Jugendlichen und den Erwachsenen, die uns jede einzelne Situation entsprechend dem Gesetz der Alten erläuterten, war sehr wichtig, es war Teil unserer Erziehung.
    Während Gagarin aufmerksam Luchs und Rad zuhörte, begannen die anderen sich zu unterhalten: Vielleicht waren wir durch Grabs Weinen wieder zu uns gekommen, irgendwie hatte es uns wieder in die Gegenwart versetzt und geeint.
    Mel begann mir plötzlich eine Geschichte zu erzählen, die er, seit er zehn war, immer wieder erzählte, wenn er betrunken war, eine Kinderphantasie. Er hatte – behauptete er – am Flussufer ein Mädchen kennengelernt und ihr versprochen, mit ihr ins Kino zu gehen. Dann hatten sie miteinander geschlafen, und wenn er an diesem Punkt der Geschichte angelangt war, sagte er immer:
    »Es war wie eine Prinzessin zu vögeln.« Es folgte eine detaillierte Beschreibung des Beischlafs, in der Mel sich als stürmischer, erfahrener Liebhaber schilderte. Die Geschichte endete damit, dass sie an seiner Schulter weinteund ihn bat, doch noch ein wenig zu bleiben, er sie aber gegen seinen Willen verlassen musste, weil er sonst zu spät zum Fischen gekommen wäre.
    Das unglaublichste und dämlichste Märchen der Welt, aber weil Mel mein Freund war, hörte ich ihm mit gespieltem Interesse und echter Geduld zu.
    Er sprach mit solcher Hingabe, dass sein eines Auge schmal wie eine Narbe wurde. Er begleitete die Geschichte mit ausholenden Gesten seiner riesigen Hände, und jedes Mal, wenn eine seiner Hände über die Wodkaflasche flog, musste ich sie festhalten, damit sie nicht umfiel.
    Ich betrachtete unsere Runde, die da beim Abendessen saß, und fühlte mich, wie Judas sich gefühlt haben muss, als er mit Jesus Christus an einem Tisch saß. Oder nein, ich kam mir nutzlos vor, ein Trottel, ein Nichts. Auch ich war ziemlich betrunken.
    Das Abendessen geriet wie so oft zu einem Besäufnis. Wir hörten nicht mehr auf zu trinken, und damit wir nicht zu betrunken wurden, brachte Großmutter Mascha uns immer wieder kleine Teller mit den Speisen, die man bei uns zum Wodka isst.
    Gegen Mitternacht kam Begunok mit einer Neuigkeit zurück: Eine Gruppe von Jungen aus dem

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