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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Wenn man wollte, dass sich etwas herumsprach, musste man ihnen nur ein bisschen Geld oder ein paar Schachteln Zigaretten geben, und zwei, drei Stunden später wusste es die ganze Stadt. Auch im Kampf gegen die Polizei waren sie sehr nützlich: Wenn es in einem Viertel von Bender einen Tumult gab und die Polizei jemanden verhaftete, dann erzählten die Jungen es herum, und diejenigen, die es anging, konnten aktiv werden, den Verhafteten befreien oder sich eine kleine Schießerei mit den Polizisten liefern, nur so, aus Spaß an der Freud.
    Jetzt brauchten wir die Hilfe der Jungen von Großmutter Mascha, um unsere Nachforschungen und unser ehrbares Angebot bekannt zu machen, aber wir waren auch ein wenig geschafft und hatten Hunger.
    Als wir bei der Signalpfeife ankamen, wurde es bereits dunkel. Großmutter Mascha empfing uns wie immer, mit einem Lächeln und freundlichen Worten, nannte uns »Söhnchen« und küsste uns auf die Wangen. Für sie waren wir alle Kinder, auch die Älteren. Wir setzten uns an einen Tisch, und sie leistete uns Gesellschaft: So machte sie es bei allen, vor dem Essen wurde geplaudert. Wir erzählten ihr von dem Unglück, das uns widerfahren war. Sie hörte sich alles an und sagte dann, dass sie die Geschichte schon von ihren Jungen erfahren hatte. Wir schwiegen, während sie sich mit dem Handtuch, das sie immer dabeihatte, die Tränen vom faltigen Gesicht wischte. In dieses Gesicht zu sehen war, als ob man der leibhaftigen Mutter Erde gegenüberstünde.
    Großmutter Mascha brachte Besteck und etwas zu trinken, und währenddessen riefen wir einen von ihren Jungen, einen kleinen, dünnen Kerl, dem ein Auge fehlte und dessen Haare weiß wie Schnee waren. Er war der pfiffigste von allen und hieß »Begunok«, was »Schnellläufer« bedeutet. Er war sehr ernsthaft, jeder Auftrag, den er entgegennahm, war für ihn so gut wie ein Versprechen. Wir baten ihn, die Geschichte allen weiterzuerzählen, die er in der Stadt kannte, und vor allem sollte er in die Lokale gehen, in denen sich die Leute trafen, um zu trinken und sich gemeinsam die Zeit zu vertreiben. Mel drückte ihm ein Päckchen Zigaretten und einen Fünfdollarschein in die Hand, und im nächsten Augenblick hörten wir ihn auf seinem Fahrrad davonsausen.
    Schweigend aßen wir zu Abend, ohne den Lärm, den wir sonst immer machten. Ich hatte großen Hunger, aberich bekam nichts runter. Während ich auf dem Essen herumkaute, spürte ich eine Last auf der Brust, um einen Bissen herunterzubekommen, musste ich trinken, so dass ich bald halb betrunken war und in den trüben Gedanken fast ertrunken wäre. Den anderen ging es nicht viel anders als mir, das Abendessen schleppte sich freudlos dahin, die Augen meiner Kameraden wurden vom Alkohol immer trüber, es war wie auf einer Beerdigung.
    Irgendwann begann einer von uns, inmitten der Seufzer und leisen Klagen ringsum, zu weinen, aber ganz leise, weil er sich für diesen Schwächeanfall schämte. Es war der Kleinste der Bande, er war dreizehn und hieß Lecha das »Grab«, weil er aussah wie ein Toter (er war dünn und ständig krank und vor allem immer deprimiert). Er hatte schon zehn Mal versucht, sich zu erhängen, aber immer hatte ihn einer von uns gerettet. Einmal hatte er sich sogar mit der Pistole seines Onkels ins Herz geschossen, aber die Kugel hatte nur einen Lungenflügel durchbohrt und seiner ohnehin schon labilen Gesundheit weiteren Schaden zugefügt. Ein anderes Mal hatte er sich besoffen in den Fluss gestürzt, um zu ertrinken, aber es war ihm nicht gelungen, weil er zu gut schwimmen konnte und der Überlebensinstinkt die Oberhand behalten hatte. Sich die Pulsadern aufzuschneiden hatte er noch nie versucht, aber nur weil er kein Blut sehen konnte. Deshalb benutzte er in Schlägereien auch nie das Messer, sondern kämpfte nur mit Schlagring und Eisenstange.
    Grab war ein Junge mit vielen Problemen, aber trotz allem passte er gut in unsere Truppe, er war wie ein Bruder. Sein Hang zum Selbstmord war ein Gespenst, das in seinem Gemüt hauste, niemand konnte genau sagen, wann es wieder zum Vorschein kam, darum gab es einen älteren Jungen, der die ganze Zeit auf ihn achtgeben sollte, Witja, den wir »Kater« nannten, weil seine Muttererzählte, als er gerade geboren war, hätte ihre Katze Lisa vier Kätzchen bekommen und sei nachts in seine Wiege gestiegen, um ihn zu säugen, und so – das erzählte zumindest die Mutter – war er ein halber Kater geworden. Grab und Kater machten alles

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