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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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haben.
    Homosexuelle Beziehungen sind bei ihnen häufig, vor allem bei den jugendlichen Drogenabhängigen, die sich in den großen Städten Russlands oft prostituieren und im Homosexuellenmilieu wegen ihres jugendlichen Alters und ihrer geringen Ansprüche sehr geschätzt sind. Viele gutsituierte Männer aus Sankt Petersburg benutzen sie und bezahlen dann mit einem Abendessen in irgendeiner Kneipe oder lassen sie die Nacht in einem Hotelzimmer verbringen, wo sie mal in einem warmen Bett schlafen und duschen können. Das Alter dieser Jungen bewegt sich zwischen zwölf und sechzehn: Wenn sie auf die Siebzehn zugegehen, nach vier Jahren im »System« – wie Drogenabhängigkeit im Verbrecherjargon heißt –, sind sie endgültig ausgebrannt.
    Laut kriminellem Gesetz darf ein Verseuchter niemals mit den Händen geschlagen werden: Wenn nötig, tritt man ihn zusammen, noch besser ist es, man benutzt einen Stock oder eine Eisenstange. Niederstechen darf man ihn auch nicht, weil der Tod durchs Messer in gewissem Sinne als ein Zeichen des Respekts gegenüber dem Feind gilt, und den muss sich das Opfer erst verdienen. Sticht ein ehrbarer Krimineller doch einmal einen Verseuchten nieder, dann ist auch er verseucht und fürs Leben ruiniert.
    Im Umgang mit den Leuten aus Bam musste man daher höllisch aufpassen und wissen, wie man sich zu verhalten hatte. Ansonsten lief man Gefahr, seinen Rang in der Gemeinschaft zu verlieren.

    In Bam gab es einen Ort, der »der Mast« hieß. Dort hatte man irgendwann mal einen richtigen Betonmast für eine Stromleitung hingepflanzt, die nie fertiggestellt wurde. Um diesen Mast herum versammelten sich die Kriminellen, die gerade die Macht im Viertel hatten: Er war also eine Art Königsthron. Die Macht wechselte so häufig, dass die ehrbaren Kriminellen aus der Unterstadt die fortwährenden Kriege unter den Verseuchten scherzhaft »Tanz um den Mast« nannten.
    Da es in Bam keine Regeln, keine kriminelle Moral gab, waren die Kriege zwischen den Ganoven sehr gewalttätig, chaotische Szenen aus einem Horrorfilm. Die Clans scharten sich um einen alten Kriminellen, der mit Hilfe seiner Krieger, die alle drogenabhängig und minderjährig waren, versuchte, die Kontrolle über den Drogenhandel im Viertel zu übernehmen, indem sie ihre Feinde, das heißt die Mitglieder des Clans, der gerade den Drogenhandel beherrschte und somit der mächtigste war, physisch eliminierten. Sie benutzten Stichwaffen, denn Schusswaffen besaßen sie nur wenige, und außerdem waren sie sowiesonicht in der Lage, sie richtig zu benutzen, weil niemand ihnen beigebracht hatte, wie man mit Pistolen und Gewehren umgeht. Im Lauf ihres Krieges brachten sie auch die Frauen und Kinder des verfeindeten Clans um: Ihre Grausamkeit kannte keine Grenzen.
    Wir steuerten sofort den Mast an. Auf der Fahrt kamen wir durch eine Reihe von Straßen, deren bloßer Anblick traurig und beängstigend war, das einzig Positive daran war der Gedanke, was für ein Glück man selbst hatte, nicht dort geboren zu sein.
    Der Mast stand mitten auf einem kleinen Platz, drum herum standen Bänke sowie ein Schultisch mit einem Plastikstuhl. Auf den Bänken hockten insgesamt etwa fünfzehn Jungen, und auf dem Plastikstuhl saß ein Mann, der so fertig war, dass man unmöglich schätzen konnte, wie alt er war.
    Wir stiegen aus. Nach dem Gesetz mussten wir dominant auftreten, also nahmen wir die Stöcke aus dem Kofferraum, gingen auf die Einheimischen zu und blieben wenige Meter von ihnen entfernt stehen. Die Spannung, die seit unserer Ankunft in der Luft lag, verwandelte sich in pure Angst. Es war wichtig, nicht zu nah heranzugehen, die Distanz zu wahren, um unseren Rang in der Gemeinschaft der Kriminellen zu unterstreichen. Sie sagten nichts und hielten die Blicke gesenkt, sie wussten, wie sie sich gegenüber den ehrbaren Leuten zu verhalten hatten. Die Regeln besagten auch, dass sie nicht als erste sprechen durften, es war ihnen nur erlaubt, auf etwaige Fragen zu antworten. Ohne zu grüßen, wandte sich Gagarin an den Alten und sagte, dass wir den suchten, der in der Nähe des Markts ein Mädchen vergewaltigt hatte, und dass uns der entscheidende Tipp zwanzigtausend Dollar wert wäre.
    Da sprang der Alte von seinem Stuhl auf, lief zu einer Bank und packte einen Jungen am Kragen, dessen Gesichtvon einer großen Brandnarbe entstellt war. Der Junge fing verzweifelt an zu schreien und rief, er hätte nichts damit zu tun, aber der Alte schlug auf seinen Kopf ein, bis er

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