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Sibirische Erziehung

Sibirische Erziehung

Titel: Sibirische Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Kaukasusviertel hatte genau zu der Zeit, als Ksjuscha vergewaltigt worden war, im Zentrum ein paar Fremde herumlaufen sehen.
    »Leute, die in der Nähe der Telefonzellen ein Mädchen belästigt haben«, sagte Begunok ernst.
    Wir rannten sofort zu den Autos.

    Das Kaukasusviertel war fast genauso alt wie unseres. Es hieß so, weil viele seiner Bewohner ursprünglich aus dem Kaukasus stammten, und wegen seiner Lage auf einer Hügelkette. Die Kriminellen aus dem Kaukasus gehörtenunterschiedlichen Gemeinschaften an, aber die vorherrschende war die sogenannte »Georgische Familie«. Die Armenier hatten sich zum Kamaschtschatoj zusammengeschlossen, dem armenischen organisierten Verbrechen, und schließlich gab es noch Leute aus diversen anderen Kaukasusregionen: Aserbaidschan, Tschetschenien, Daghestan, Kasachstan und Usbekistan.
    Georgier und Armenier vertrugen sich, denn die beiden kaukasischen Völker verband ihr christlich-orthodoxer Glaube, während die anderen Bewohner des Viertels Muslime oder Atheisten mit islamischem Hintergrund waren. Die kriminellen Gemeinschaften der Georgier und der Armenier gründeten auf der Familienstruktur: Anders als bei uns Sibirern war es nicht nötig, sich den Respekt der anderen selbst zu verdienen, um eine Autorität zu werden, es genügte, in die richtige Familie hineingeboren zu werden. Die Clans bestanden aus Familienmitgliedern und gingen verschiedenen kriminellen Geschäften nach: Schiebergeschäfte, Drogenhandel, kleinere Diebstähle und Mord.
    Die Georgier waren wegen ihrer Art in unserer Gemeinschaft nicht gut angesehen: Oft weigerten sich unsere Kriminellen, mit ihnen auch nur zu reden, weil sie sich als Sohn oder Verwandter einer angesehenen Person vorstellten. Bei den Sibirern ist ein solches Verhalten inakzeptabel: Bei uns wird jeder nach dem beurteilt, was er selbst darstellt, seine Herkunft kommt erst an zweiter Stelle. In Sibirien beruft man sich nur auf den Schutz der Familie, wenn es gar nicht mehr anders geht, wenn es um Leben und Tod geht.
    Aus diesen und anderen Gründen hatten wir also viel Ärger mit den Leuten aus dem Kaukasus: Wenn wir irgendwo in der Stadt aufeinandertrafen, endete es immer in einer Schlägerei, und manchmal ging einer dabei drauf.
    Zwei Jahre zuvor hatte einer unserer Freunde, Mitja der »Gauner«, einen Georgier niedergestochen, weil der ihn beleidigt hatte, indem er in seiner Anwesenheit Georgisch gesprochen hatte. Gauner hatte ihn gewarnt und gesagt, dass er sich beleidigend verhielt, aber der andere hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er vorhatte, weiter Georgisch zu sprechen, weil er die Russen verachtete, die er »Besatzer« nannte. Das war eine politische Provokation, Gauner reagierte darauf, indem er den Georgier niederstach. Als der Georgier später im Krankenhaus starb, wandten sich seine Landsleute an die alten Kriminellen der Tschornaja mast: Sie forderten Gerechtigkeit, aber das Urteil fiel gegen sie aus, weil der Georgier gleich in zwei Punkten gegen das Gesetz der Kriminellen verstoßen hatte: Erstens hatte er sich gegenüber einem anderen Kriminellen grundlos unhöflich verhalten, und zweitens hatte er über Politik geredet, was eine schwere Beleidigung der gesamten Verbrechergemeinschaft darstellt: Politik ist eine Sache der Köter, Kriminelle dürfen sich mit diesem Dreck nicht abgeben.
    Aber die Georgier gaben auch nach dem Urteil keine Ruhe und versuchten mehrmals, sich zu rächen: Erst schossen sie auf unseren Freund Wasja, aber der hatte Glück und kam durch, dann versuchten sie in einer Diskothek Gauner umzubringen. Sie provozierten eine Schlägerei, damit er die Disko verließ, und fielen draußen in der Gruppe über ihn her. Zum Glück waren wir auch da und stürzten uns zu seiner Rettung ins Getümmel.
    Während wir uns prügelten, bemerkten wir, dass sie »Torpedos« gegen Gauner losschickten: Das ist eine Methode, um im Verlauf einer Schlägerei gezielt eine bestimmte Person umzubringen, während man so tut, als wäre es ein Unfall. Zwei, drei Mann gehen wie zufällig auf das Opfer (»Klient«) los und geben einem anderen (demTorpedo) die Möglichkeit, ihn aus dem Gemenge heraus mit einem gezielten Stich zu töten. Danach stürzen sich alle wieder ins Gewühl, und wenn der Torpedo geschickt war, hat keiner etwas bemerkt, und alles wurde schnell und professionell ausgeführt. Der Tod des Klienten wird als eine ganz normale Folge der Schlägerei behandelt und gerät schnell in Vergessenheit, weil eine Schlägerei

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